Zu den Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan vom 31. März 2019 reiste eine Delegation aus Hamburg und Celle im Auftrag von Zaklin Nastic, Sprecherin für Menschenrechtspolitik der Linksfraktion im Bundestag, in die nordkurdischen Gebiete, um die Wahlen dort zu beobachten.
Insgesamt hielt sich die Delegation vom 29.3. bis zum 1.4. in den Provinzen Amed (Diyarbakir) und Cizîr (Cizre) auf. Sie setzte sich zusammen aus Abgeordneten des Bezirksparlamentes, solidarischen Personen und Friedensaktivist*innen.
„In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen“ – so lautet die Doppelstrategie der HDP für die Kommunalwahlen am 31. März. Die HDP, die Demokratische Partei der Völker, war es auch, die auch in diesem Jahr wieder dazu aufrief, in den kurdischen Gebieten der Türkei die Wahlen zu beobachten. In diesen undemokratischen Zeiten der aggressiven Diktatur der AKP wünschte sich die Partei internationale solidarische Beobachter*innen, um die rechtswidrigen Praktiken von Gewalt, Repression und Betrug zu bezeugen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Dem versuchte unsere Delegation bestmöglich zu entsprechen.
Es lässt sich sagen, dass die Strategie der HDP bei diesen Wahlen grundsätzlich Erfolg zeigte. In den westlichen Metropolen gelang es durch die Stimmen potenzieller HDP-Wähler*innen, der CHP zum Wahlsieg zu helfen. Dies fiel einigen Wähler*innen sicherlich nicht einfach, denn als wirkliche Oppositionspartei lässt sich die CHP nicht bezeichnen, zumal sie zuletzt auch der Aufhebung der Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter beistimmte, woraufhin viele in die Gefängnisse wanderten, darunter auch der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Doch selbst dieser rief noch am Tag vor der Wahl dazu auf, im Westen für die Allianz aus CHP und Iyi-Parti zu stimmen, um die Allianz aus nationalistisch-islamistischer AKP und rechtsextremer MHP vom Thron zu stürzen. In Nordkurdistan gelang es der HDP, fast alle Provinzen zurückzugewinnen, die zuletzt unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Doch zehn Tage nach der Wahl beschloss der Hohe Wahlausschuss (YSK), der nur noch als politisches Werkzeug Erdogans fungiert, dass die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt nicht antreten werden dürfen, falls sie zuvor aufgrund der Ausnahmezustandsdekrete vom öffentlichen Dienst entlassen wurden. Die Mandate sollen an die zweitstärkste Kraft (AKP) gehen. Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die völlig widersprüchliche Anwendung von Gesetzen seitens der Machthaber gegenüber Oppositioneller und für eine andere Art der Zwangsverwaltung. Im Westen ist es insbesondere der Verlust von Istanbul, der einen schweren Schlag für Erdogan darstellt. Die Stadt ist nicht nur von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, sie trägt zudem auch symbolisches Gewicht. Der Kampf um die Stadt fängt jedoch gerade erst an, weshalb es hier keine abschließende Aussage geben kann.
Schon im Vorfeld der Wahlen kam es zu allen Arten von Ungerechtigkeit und Ungleichheit, Unterdrückung und Angriffen seitens der AKP-MHP Allianz gegenüber der HDP. Aber auch andere Teile der Opposition wurden seitens der Machthaber stark angegangen; grundsätzlich lässt sich sagen, dass alle, die nicht exakt denken wie AKP-MHP, als „Terroristen“ beschimpft werden. Das Regime versucht, sich durch Kriegspolitik und Polarisierung der Gesellschaft an der Macht zu halten. In so einem politischen Klima der Kriminalisierung und Terrorisierung aller politischer Oppositioneller kann es keinen freien, fairen und demokratischen Wahlprozess geben. Dies zeigte sich beispielsweise auch in der Art und Weise, wie insbesondere mit der HDP in den Medien umgegangen wurde. Die staatlichen Medien, insbesondere TRT und AA, betrieben aggressive Propaganda gegenüber der HDP; zudem war diesen der Zugang zu Medien komplett verwehrt, so durften beispielsweise keine Wahlwerbespots der Partei laufen. Die HDP war somit rein auf soziale Netzwerke und persönlichen Kontakt angewiesen. Aber demokratische Zustände herrschen in der Türkei seit Jahren nicht mehr.
Am Wahlwochenende hielt sich die Delegation zunächst in Amed auf, wo es drei Treffen gemeinsam für alle Delegationen gab. Insgesamt waren über 70 Delegierte anwesend. In der Parteizentrale der HDP berichtete zunächst eine Vertreterin der TJAK, der Bewegung der freien Frauen, von ihren Erfahrungen auf dem Gebiet der nicht-staatlichen Organisierung und den Prinzipien der Bewegung. Die Organisation versteht sich als Bewegung, welche Widerstand gegen die Mentalität des IS (sog. Islamischer Staat) im gesamten Mittleren Osten leistet und männliche Dominanz in allen Bereichen bekämpfe. Dabei nimmt sie ihren Platz als Teil einer weltweiten Frauenbewegung ein. Wichtige Aspekte der Bewegung sind das System des Ko-Vorsitzes und die Diversität der Bewegung: verschieden Ethnien, verschiedene Religionen zeigen die Vielfalt der Gesellschaft, die sich jedoch nach denselben Werten sehnt. Die Frauenbewegung rief zudem dazu auf, als Zeichen der Gemeinsamkeit auch jenseits von Kurdistan ihrer besonderen Daten zu gedenken, da diese Tage für alle feministischen Bewegungen von Bedeutung sind: der 3. August, der Jahrestag des Genozides an den Ezid*innen im Sengal und der 9. Januar, der Jahrestag der Ermordung der drei Aktivistinnen der kurdischen Freiheitsbewegung in Paris, Sakine Cansız, Leyla Saylemez und Fidan Doğan.
Im Anschluss folgte eine Rede von Vertreter*innen der HDP. Es wurden die Angriffe auf die HDP der letzten Jahre in Erinnerung gerufen und die Aspekte des politischen Vernichtungsfeldzuges, den der türkische Staat gegen die kurdische Bevölkerung führt. Über 90 Orte wurden ab 2015 unter Zwangsverwaltung gestellt, demokratisch gewählte Bürgermeister*innen verhaftet, über 120 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen, mehr als 10 000 politische Aktivist*innen festgenommen, ganze Städte zerstört. Es gibt keine freie Presse mehr, es herrscht ein Klima der Unterdrückung, Repression und Gewalt. Mitglieder der HDP werden als Terroristen diffamiert und es kam zu zahlreichen Festnahmen unmittelbar vor den Wahlen. Es wurde betont, dass in diesem Klima den Wahlen eine höhere Bedeutung zukomme, denn sie seien zukunftsweisend für die weitere Entwicklung in der Türkei. Entweder es öffne sich der Weg zur Demokratisierung oder es folge die Fortführung einer Politik basierend auf Krieg, Konflikten und Isolation.
Die aktuelle Hungerstreikbewegung bildete den Rahmen für das letzte gemeinsame Treffen aller Delegationen. Dem Beispiel Leyla Güven folgend, die ihren unbefristeten Hungerstreik im November 2018 begann, befinden sich gerade tausende von Menschen ebenfalls in dieser Form des Widerstandes. Mehr als 7000 politische Gefangene, dutzende Aktivist*innen und Politiker*innen außerhalb der Gefängnismauern teilen dieselben Forderungen: Die Aufhebung der Totalisolation Abdullah Öcalans und die legitime Wahrung seiner Rechte, damit er sich für den Frieden in der Türkei und Kurdistan einsetzen kann. Die Isolation gilt somit nicht nur ihm, sondern steht für die Art der Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung, wie sie seitens des türkischen Staats praktiziert wird: Rechte werden ignoriert, es wird versucht, zu vernichten, zu zerstören und unsichtbar zu machen. Die Delegationen trafen die drei hungerstreikenden HDP-Politiker*innen Dersim Dağ, Tayip Temel, Murat Sarısaç, einige auch auch Leyla Güven. Erwartet werde, dass die internationalen Beobachter*innen Öffentlichkeit für die Forderungen herstellen werden, denn in der Türkei selbst könne sich keine oppositionelle Stimme der Repression Erdogans entziehen. Dies müsse genauso in der internationalen Öffentlichkeit thematisiert werden: dass es in der Türkei ein faschistoides Regime gebe und menschliche Werte mit Füßen getreten werden. Auf die Frage eines Teilnehmers, woher die Hungerstreikenden ihre Stärke nehmen würden, antworteten diese, dass sie ein Ziel hätten, deshalb hätten sie Kraft.
Am Wahlsonntag waren die Teilnehmer*innen der Hamburger Delegation aufgeteilt in kleineren Gruppen in verschiedenen Gebieten der Provinz Cizîr unterwegs. Am Abend davor, auf der Fahrt nach Cizîr, fanden mehrere Kontrollen an Sicherheitscheckpoints statt. Kurz vor der Stadt beispielsweise wurde die Delegation mehr als eine Stunde festgehalten und durch verschiedene Sicherheitskräfte verhört. Der Weg von Mêrdîn nach Cizîr ist zudem geprägt durch die Präsenz der hunderte Kilometer langen Mauer zu Rojava/Nordsyrien, der westliche Teil Kurdistans. Alle vier Teile Kurdistans sind durch die kolonialistischen Grenzen der regionalen und globalen Mächte zumindest auf der Karte geteilt, doch die Mauer zwischen Westen und Norden wurde erst in den letzten Jahren durch den türkischen Staat und mit Geldern der EU errichtet und trennt ganze Orte, Familien, Menschen.
In Silopi wurde beobachtet, dass in vielen Wahllokalen hunderte Soldaten wählen, die dort weder stationiert sind, noch dort leben. Die Registrierung von Soldaten dient der Beeinflussung der Wahlergebnisse. Diese Methode wurde auch in vielen anderen Orten in Nordkurdistan angewandt und teilweise auch schon im Vorfeld seitens der HDP öffentlich gemacht. Auch die hohe Militärpräsenz einte alle besuchten Ortschaften. Vor vielen Schulen, die als Wahllokale dienten, parkten Panzer, Soldaten mit Waffen bewegten sich in- und außerhalb der Gebäude. Besonders intensiv richtete das türkische Regime seinen Fokus auf Orte Şirnex. Şirnex, ein Zentrum des Widerstandes der kurdischen Freiheitsbewegung, glich am Wahltag eher einer Kaserne. Unzählige Panzer rollten durch die Straßen, die Menschen berichteten von Drohungen und Einschüchterungen. In den besuchten Wahllokalen durften die Beobachter*innen nach einer anfänglichen Ausnahme nicht einmal mehr die Gebäude betreten. Das Wahlergebnis von Şirnex, dass die AKP 61 Prozent der Stimmen erlangt hätte, lässt sich nicht als Wille der Bevölkerung sehen, sondern steht im Zusammenhang mit der massiven Manipulation, die das Regime durch oben benannte Methode und andere Angriffe des Vernichtungsfeldzuges gegenüber der kurdischen Bevölkerung durchführt. Besonders bewegend erschien einigen Beobachter*innen, die zum ersten Mal nach Şirnex kamen, die Sichtbarkeit der Brutalität des Kolonialismus in Kurdistan. Angefangen von der Militarisierung des gesamten Gebietes zur Kontrolle der Bevölkerung bis hin zu der so offenen Ausbeutung der Rohstoffe und den zuletzt 2015/2016 entstandenen Lücken zwischen den Wohnhäusern, entstanden durch die massiven Angriffe seitens des türkischen Staates. Das sind Eindrücke, wie sie die kurdische Bevölkerung seit jahrzehnten aus so vielen ihrer Ortschaften kennt und die es so nicht geben könnte, würden nicht auch die internationalen Staaten ihren Anteil daran haben.
Abschließend lässt sich nur wiederholen, dass selbst in so einem kurzen Beobachtungszeitraum zu sehen war, dass es sich in so einem faschistoiden Staat wie der Türkei nur um undemokratische, unfreie Wahlen handeln konnte. Die AKP-MHP mag zwar eine Mehrheit errungen haben, doch die eingesetzten Mitteln müssen betrachtet werden, mit denen es dazu kam. Teilweise konnten diese direkt am Wahltag beobachtet werden, teils erkennt man diese an der Politik der letzten Jahre. Als Delegation wird versucht, Öffentlichkeit dafür herzustellen, da vieles vor Ort selbst nicht mehr möglich ist. Zudem ist aber auch die Aufgabe jeder Delegation, sich selbst für ein Ende dieser Politik einzusetzen. Das bedeutet beispielsweise für die Bundesrepublik, aktiv gegen die Unterstützung anzugehen, die die Bundesregierung Erdogan gewährt, sei es aus politischem Kalkül oder wegen der Interessen der deutschen Rüstungsindustrie. Abgesehen von den Begegnungen mit den Menschen in Kurdistan, die trotz all dieser Angriffe dennoch immer wieder sagen: „Wir werden siegen!“ und von deren Willensstärke viel gelernt werden kann, bieten die internationalen Zusammenkünfte auch die Möglichkeit, sich zu vernetzen und Verbindungen zueinander aufzubauen, um das System, das hinter dem Vernichtungsfeldzug gegenüber der kurdischen Bevölkerung steht, vereinter zu bekämpfen.