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Delegationsreise in das Camp Mexmûr (2021)

zur Unterstützung des Gesundheitszentrums durch Fortbildung und Mitarbeit.

Medizinische Delegationsreise ins Camp Machmur – Spendenprojekt für das Gesundheitszentrum

Im Juli 2021 reiste eine Delegation mit einer Gynäkologin, einem Notfallmediziner und einem Psychiater nach Südkurdistan (Nordirak) in das Flüchtlingslager in Machmur. Die Delegation wurde unterstützt vom ‚Verein Demokratischer Ärztinnen & Ärzte‚ (VDÄÄ – Regionalgruppe Hamburg) und die Reise erfolgte auf Einladung des Gesundheitszentrums im Flüchtlingscamp Machmur. Ziel der Delegationsreise war es, das Gesundheitszentrum durch Fortbildung und Mitarbeit zu unterstützen und medizinische Materialspenden zu überbringen.

 

Camp Machmur entstand 1998 als Flüchtlingslager
Das Flüchtlingscamp in Machmur (kurdisch: Mexmûr) wurde 1998 von der UNHCR errichtet – die in den 1990er Jahren geflohenen Kurdinnen und Kurden (circa 12.000) aus Nord-Kurdistan (türkisches Staatsgebiet) sollten in einem Gebiet nahe der Stadt Machmur mitten in der Wüste im Nord-Irak (damals noch unter der Herrschaft von Saddam Hussein) gemeinsam unter­gebracht werden. Es ist somit eines der ältesten Flüchtlingslager der Region. Die Flucht war eine kollektive, politische Entscheidung als Reaktion auf die Politik des türkischen Staates – eine Politik des Verschwindenlassens, der Folter, der Zwangsrekrutierung für das Dorfschützersystem, der Zerstörung der Dörfer und der gezielten Vertreibung der Bevöl­kerung aus Nordkurdistan. Diese gemeinsame Geschichte und politische Haltung prägt das Camp bis heute. Inmitten der Wüste haben die Menschen eine Oase geschaffen.

Im Laufe der Jahre haben die Bewohnerinnen und Bewohner aus einem Zeltlager eine Kleinstadt errichtet. Es wurden feste Häuser gebaut, durch Wasserbohrungen konnte ein System von Brunnen mit umfassender Wasserversorgung errichtet werden, mit Generatoren wurde Elektrizität in alle Häuser gebracht. Auch ein Abwassersystem konnte installiert werden, eine Müllabfuhr wurde organisiert. Es wurden Schulen gebaut, ein Gesundheitszentrum, ein Physiotherapiezentrum und mittlerweile auch eine zahnärztliche Praxis errichtet. Beeindruckend ist es auch, wie viele Bäume und andere Pflanzen in diesem Wüstenfleck gepflanzt werden konnten – dabei versorgen sich die Menschen mit Trauben, Feigen, Tomaten und anderen Früchten und Gemüse selbständig, teilweise können diese Produkte auch außerhalb des Lagers verkauft werden. Eine Insel der Selbstverwaltung zwischen Türkei, Irak und kurdischer Autonomieregion ist hier entstanden.

Nach dem am 25.9.2017 abgehaltenen Referendum, bei dem 92% der Bevölkerung in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) für eine Unabhängigkeit stimmten, übernahm die irakische Armee die Kontrolle von circa 40% des von der ARK kontrolliertem Gebiet, darunter vor allem die aufgrund der Ölförderung strategisch wichtige Stadt Kirkuk, und reduzierte das Gebiet der ARK auf den Gebietsstand von vor 2003. Zu diesem von der irakischen Regierung eingenommenen Gebiet gehörten auch die Stadt und das Camp Machmur, so dass nun die Grenze zwischen dem irakischen Staatsgebiet und der ARK nur wenige Kilometer nördlich des Lagers verläuft.
Der türkische Staat setzt alles daran, das Flüchtlingscamp Machmur als ein „Nest des Terrorismus“ zu brandmarken und (nicht nur) politisch zu bekämpfen. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der in der ARK regierenden KDP wurde 2019 beschlossen, dass zur angeblichen „Bekämpfung des Terrorismus“ keine Personen mehr aus dem Lager in das KDP-kontrollierte Gebiet der ARK einreisen dürfen.

 

Schwierige Alltagsbedingungen
Diese Isolation ist für die Bevölkerung des Camp Machmur sehr einschnei­dend. Bis 2019 war es ihnen möglich in die nur 67 km entfernte Hauptstadt der ARK, Erbil (kurdisch: Hewler) zu fahren. Die Stadt bot bis dahin die besten Möglichkeiten der (Weiter-) Bildung, medizinischer Einrichtungen und Versorgung mit essentiellen Gütern. Seit 2019 müssen nun alle Erledigungen und sogar notwendige und dringende Krankenhausbehandlungen in mehreren hundert Kilometer entfernten anderen Städten (z.B. Mosul, Sulaymaniyah, Bagdad) erfolgen. Plötzlich durften die Kurdinnen und Kurden aus dem Camp nicht mehr nach Kurdistan reisen!

 

Das Gesundheitszentrum in Camp Machmur
Gerade aufgrund dieser Entwicklung hat das Gesundheitszentrum im Camp Machmur eine besondere Bedeutung in der Versorgung der Bevölkerung erhalten. Das Gesundheitszentrum ist vergleichbar mit einer allgemeinmedizinischen Poli­klinik mit einer ambulanten Versorgung von täglich zwischen 100 und 200 Patienten und Patientinnen. Das Gesundheitszentrum hat eine Apotheke, ein Labor und ein Röntgenraum. Mit Spenden der Kurdistanhilfe e.V. von 2020 konnte ein Ultraschallgerät angeschafft und eine Krankenpflegerin zu einer speziellen Ultraschall-Ausbildung geschult werden. Seitdem sind allgemeinmedizinische und geburts­hilf­liche Ultraschalluntersuchungen möglich. Für die Versorgung im Zentrum muss jede Person jeweils einen geringen Unkostenbeitrag zahlen – eine allgemeine Krankenversicherung gibt es im Irak nicht.

Das Gesundheitszentrum erfüllt für das Camp Machmur drei wichtige Aufgaben:

    • Eine autonome Gesundheitsversorgung für alle Personen im Flüchtlingscamp bedeutet eine Unabhängigkeit von fremden Gesundheitsstrukturen. Für viele medizinische Leistungen müsste die Camp-Bevölkerung sonst in benachbarte Städte reisen – seit dem Einreisestopp an der Grenze zur Autonomen Region Kurdistan (ARK) ist diese Möglichkeit massiv erschwert worden, weswegen eine Gesundheitsversorgung möglichst im Camp erfolgen muss.
    • Die gesundheitlichen Leistungen im Gesundheitszentrum sind qualitativ so gut, dass auch die Bevölkerung der benachbarten Stadt Machmur, aber auch aus entfernteren Orten, dieses aufsucht. Somit ist das Gesundheitszentrum ein Aushängeschild des Flüchtlingscamps und wirkt als vertrauensbildende Maßnahme zwischen der irakisch-kurdischen und -arabischen Allgemeinbevölkerung und dem Camp-Bevölkerung. Wenn sogar irakische Soldaten das Gesundheitszentrum zur Behandlung aufsuchen, wird die Terrorismus-Propaganda der Türkei nicht greifen und es entstehen wertvolle Kontakte für die Camp-Bevölkerung.
    • Die sozial angemessenen, vergleichsweise niedrigen Preise für Gesundheitsleistungen im Zentrum führen dazu, dass Preise für Gesundheitsleistungen auch in der Umgebung niedrig gehalten werden müssen.

Die Entscheidungen in Bezug auf Leistungsumfang, Budget und Versorgungsstrukturen werden im Camp Machmur durch eine Gesundheitskommission getroffen. Diese wird geleitet durch eine weibliche Mitarbeiterin und einen männlichen Mitarbeiter und tagt regelmäßig.

Gesundheitszentrum im Nord-Irak | Kurdistanhilfe e. V.

Angesichts der schwierigen Lage, in der sich die Bevölkerung des Flüchtlingscamp Machmur aufgrund der politischen Isolation befindet, ist die Unterstützung des Gesundheitszentrums eine wichtige humanitäre Aufgabe, der wir uns stellen sollten.

Spenden-Stichwort: „Machmur“

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Wahlbeobachtungsdelegation zu den Kommunalwahlen in Nord-Kurdistan (2019)

Zu den Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan vom 31. März 2019 reiste eine Delegation aus Hamburg und Celle im Auftrag von Zaklin Nastic, Sprecherin für Menschenrechtspolitik der Linksfraktion im Bundestag, in die nordkurdischen Gebiete, um die Wahlen dort zu beobachten.

Insgesamt hielt sich die Delegation vom 29.3. bis zum 1.4. in den Provinzen Amed (Diyarbakir) und Cizîr (Cizre) auf. Sie setzte sich zusammen aus Abgeordneten des Bezirksparlamentes, solidarischen Personen und Friedensaktivist*innen.

„In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen“ – so lautet die Doppelstrategie der HDP für die Kommunalwahlen am 31. März. Die HDP, die Demokratische Partei der Völker, war es auch, die auch in diesem Jahr wieder dazu aufrief, in den kurdischen Gebieten der Türkei die Wahlen zu beobachten. In diesen undemokratischen Zeiten der aggressiven Diktatur der AKP wünschte sich die Partei internationale solidarische Beobachter*innen, um die rechtswidrigen Praktiken von Gewalt, Repression und Betrug zu bezeugen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Dem versuchte unsere Delegation bestmöglich zu entsprechen.

ŞIRNAK / BİNGÖL – Altürk, nachdem er gewählt hatte: „Diese Wahl ist gut für unser Volk. Ich forderte alle Wähler auf, zu den Wahlen zu gehen, um ihre Stimmen zu abzugeben.“

Es lässt sich sagen, dass die Strategie der HDP bei diesen Wahlen grundsätzlich Erfolg zeigte. In den westlichen Metropolen gelang es durch die Stimmen potenzieller HDP-Wähler*innen, der CHP zum Wahlsieg zu helfen. Dies fiel einigen Wähler*innen sicherlich nicht einfach, denn als wirkliche Oppositionspartei lässt sich die CHP nicht bezeichnen, zumal sie zuletzt auch der Aufhebung der Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter beistimmte, woraufhin viele in die Gefängnisse wanderten, darunter auch der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Doch selbst dieser rief noch am Tag vor der Wahl dazu auf, im Westen für die Allianz aus CHP und Iyi-Parti zu stimmen, um die Allianz aus nationalistisch-islamistischer AKP und rechtsextremer MHP vom Thron zu stürzen. In Nordkurdistan gelang es der HDP, fast alle Provinzen zurückzugewinnen, die zuletzt unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Doch zehn Tage nach der Wahl beschloss der Hohe Wahlausschuss (YSK), der nur noch als politisches Werkzeug Erdogans fungiert, dass die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt nicht antreten werden dürfen, falls sie zuvor aufgrund der Ausnahmezustandsdekrete vom öffentlichen Dienst entlassen wurden. Die Mandate sollen an die zweitstärkste Kraft (AKP) gehen. Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die völlig widersprüchliche Anwendung von Gesetzen seitens der Machthaber gegenüber Oppositioneller und für eine andere Art der Zwangsverwaltung. Im Westen ist es insbesondere der Verlust von Istanbul, der einen schweren Schlag für Erdogan darstellt. Die Stadt ist nicht nur von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, sie trägt zudem auch symbolisches Gewicht. Der Kampf um die Stadt fängt jedoch gerade erst an, weshalb es hier keine abschließende Aussage geben kann.

Schon im Vorfeld der Wahlen kam es zu allen Arten von Ungerechtigkeit und Ungleichheit, Unterdrückung und Angriffen seitens der AKP-MHP Allianz gegenüber der HDP. Aber auch andere Teile der Opposition wurden seitens der Machthaber stark angegangen; grundsätzlich lässt sich sagen, dass alle, die nicht exakt denken wie AKP-MHP, als „Terroristen“ beschimpft werden. Das Regime versucht, sich durch Kriegspolitik und Polarisierung der Gesellschaft an der Macht zu halten. In so einem politischen Klima der Kriminalisierung und Terrorisierung aller politischer Oppositioneller kann es keinen freien, fairen und demokratischen Wahlprozess geben. Dies zeigte sich beispielsweise auch in der Art und Weise, wie insbesondere mit der HDP in den Medien umgegangen wurde. Die staatlichen Medien, insbesondere TRT und AA, betrieben aggressive Propaganda gegenüber der HDP; zudem war diesen der Zugang zu Medien komplett verwehrt, so durften beispielsweise keine Wahlwerbespots der Partei laufen. Die HDP war somit rein auf soziale Netzwerke und persönlichen Kontakt angewiesen. Aber demokratische Zustände herrschen in der Türkei seit Jahren nicht mehr.

Am Wahlwochenende hielt sich die Delegation zunächst in Amed auf, wo es drei Treffen gemeinsam für alle Delegationen gab. Insgesamt waren über 70 Delegierte anwesend. In der Parteizentrale der HDP berichtete zunächst eine Vertreterin der TJAK, der Bewegung der freien Frauen, von ihren Erfahrungen auf dem Gebiet der nicht-staatlichen Organisierung und den Prinzipien der Bewegung. Die Organisation versteht sich als Bewegung, welche Widerstand gegen die Mentalität des IS (sog. Islamischer Staat) im gesamten Mittleren Osten leistet und männliche Dominanz in allen Bereichen bekämpfe. Dabei nimmt sie ihren Platz als Teil einer weltweiten Frauenbewegung ein. Wichtige Aspekte der Bewegung sind das System des Ko-Vorsitzes und die Diversität der Bewegung: verschieden Ethnien, verschiedene Religionen zeigen die Vielfalt der Gesellschaft, die sich jedoch nach denselben Werten sehnt. Die Frauenbewegung rief zudem dazu auf, als Zeichen der Gemeinsamkeit auch jenseits von Kurdistan ihrer besonderen Daten zu gedenken, da diese Tage für alle feministischen Bewegungen von Bedeutung sind: der 3. August, der Jahrestag des Genozides an den Ezid*innen im Sengal und der 9. Januar, der Jahrestag der Ermordung der drei Aktivistinnen der kurdischen Freiheitsbewegung in Paris, Sakine Cansız, Leyla Saylemez und Fidan Doğan.

Im Anschluss folgte eine Rede von Vertreter*innen der HDP. Es wurden die Angriffe auf die HDP der letzten Jahre in Erinnerung gerufen und die Aspekte des politischen Vernichtungsfeldzuges, den der türkische Staat gegen die kurdische Bevölkerung führt. Über 90 Orte wurden ab 2015 unter Zwangsverwaltung gestellt, demokratisch gewählte Bürgermeister*innen verhaftet, über 120 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen, mehr als 10 000 politische Aktivist*innen festgenommen, ganze Städte zerstört. Es gibt keine freie Presse mehr, es herrscht ein Klima der Unterdrückung, Repression und Gewalt. Mitglieder der HDP werden als Terroristen diffamiert und es kam zu zahlreichen Festnahmen unmittelbar vor den Wahlen. Es wurde betont, dass in diesem Klima den Wahlen eine höhere Bedeutung zukomme, denn sie seien zukunftsweisend für die weitere Entwicklung in der Türkei. Entweder es öffne sich der Weg zur Demokratisierung oder es folge die Fortführung einer Politik basierend auf Krieg, Konflikten und Isolation.

Die aktuelle Hungerstreikbewegung bildete den Rahmen für das letzte gemeinsame Treffen aller Delegationen. Dem Beispiel Leyla Güven folgend, die ihren unbefristeten Hungerstreik im November 2018 begann, befinden sich gerade tausende von Menschen ebenfalls in dieser Form des Widerstandes. Mehr als 7000 politische Gefangene, dutzende Aktivist*innen und Politiker*innen außerhalb der Gefängnismauern teilen dieselben Forderungen: Die Aufhebung der Totalisolation Abdullah Öcalans und die legitime Wahrung seiner Rechte, damit er sich für den Frieden in der Türkei und Kurdistan einsetzen kann. Die Isolation gilt somit nicht nur ihm, sondern steht für die Art der Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung, wie sie seitens des türkischen Staats praktiziert wird: Rechte werden ignoriert, es wird versucht, zu vernichten, zu zerstören und unsichtbar zu machen. Die Delegationen trafen die drei hungerstreikenden HDP-Politiker*innen Dersim Dağ, Tayip Temel, Murat Sarısaç, einige auch auch Leyla Güven. Erwartet werde, dass die internationalen Beobachter*innen Öffentlichkeit für die Forderungen herstellen werden, denn in der Türkei selbst könne sich keine oppositionelle Stimme der Repression Erdogans entziehen. Dies müsse genauso in der internationalen Öffentlichkeit thematisiert werden: dass es in der Türkei ein faschistoides Regime gebe und menschliche Werte mit Füßen getreten werden. Auf die Frage eines Teilnehmers, woher die Hungerstreikenden ihre Stärke nehmen würden, antworteten diese, dass sie ein Ziel hätten, deshalb hätten sie Kraft.

Am Wahlsonntag waren die Teilnehmer*innen der Hamburger Delegation aufgeteilt in kleineren Gruppen in verschiedenen Gebieten der Provinz Cizîr unterwegs. Am Abend davor, auf der Fahrt nach Cizîr, fanden mehrere Kontrollen an Sicherheitscheckpoints statt. Kurz vor der Stadt beispielsweise wurde die Delegation mehr als eine Stunde festgehalten und durch verschiedene Sicherheitskräfte verhört. Der Weg von Mêrdîn nach Cizîr ist zudem geprägt durch die Präsenz der hunderte Kilometer langen Mauer zu Rojava/Nordsyrien, der westliche Teil Kurdistans. Alle vier Teile Kurdistans sind durch die kolonialistischen Grenzen der regionalen und globalen Mächte zumindest auf der Karte geteilt, doch die Mauer zwischen Westen und Norden wurde erst in den letzten Jahren durch den türkischen Staat und mit Geldern der EU errichtet und trennt ganze Orte, Familien, Menschen.

In Silopi wurde beobachtet, dass in vielen Wahllokalen hunderte Soldaten wählen, die dort weder stationiert sind, noch dort leben. Die Registrierung von Soldaten dient der Beeinflussung der Wahlergebnisse. Diese Methode wurde auch in vielen anderen Orten in Nordkurdistan angewandt und teilweise auch schon im Vorfeld seitens der HDP öffentlich gemacht. Auch die hohe Militärpräsenz einte alle besuchten Ortschaften. Vor vielen Schulen, die als Wahllokale dienten, parkten Panzer, Soldaten mit Waffen bewegten sich in- und außerhalb der Gebäude. Besonders intensiv richtete das türkische Regime seinen Fokus auf Orte Şirnex. Şirnex, ein Zentrum des Widerstandes der kurdischen Freiheitsbewegung, glich am Wahltag eher einer Kaserne. Unzählige Panzer rollten durch die Straßen, die Menschen berichteten von Drohungen und Einschüchterungen. In den besuchten Wahllokalen durften die Beobachter*innen nach einer anfänglichen Ausnahme nicht einmal mehr die Gebäude betreten. Das Wahlergebnis von Şirnex, dass die AKP 61 Prozent der Stimmen erlangt hätte, lässt sich nicht als Wille der Bevölkerung sehen, sondern steht im Zusammenhang mit der massiven Manipulation, die das Regime durch oben benannte Methode und andere Angriffe des Vernichtungsfeldzuges gegenüber der kurdischen Bevölkerung durchführt. Besonders bewegend erschien einigen Beobachter*innen, die zum ersten Mal nach Şirnex kamen, die Sichtbarkeit der Brutalität des Kolonialismus in Kurdistan. Angefangen von der Militarisierung des gesamten Gebietes zur Kontrolle der Bevölkerung bis hin zu der so offenen Ausbeutung der Rohstoffe und den zuletzt 2015/2016 entstandenen Lücken zwischen den Wohnhäusern, entstanden durch die massiven Angriffe seitens des türkischen Staates. Das sind Eindrücke, wie sie die kurdische Bevölkerung seit jahrzehnten aus so vielen ihrer Ortschaften kennt und die es so nicht geben könnte, würden nicht auch die internationalen Staaten ihren Anteil daran haben.

ŞIRNAK / BİNGÖL – Die Co-BürgermeisterIn der Stadtverwaltung von Şırnak, Hişar Osal und Nurcan Altürk äußerten, als sie ihre Stimme abgaben, die Hoffnung, die Wahlen mögen zum Frieden beitragen.

Abschließend lässt sich nur wiederholen, dass selbst in so einem kurzen Beobachtungszeitraum zu sehen war, dass es sich in so einem faschistoiden Staat wie der Türkei nur um undemokratische, unfreie Wahlen handeln konnte. Die AKP-MHP mag zwar eine Mehrheit errungen haben, doch die eingesetzten Mitteln müssen betrachtet werden, mit denen es dazu kam. Teilweise konnten diese direkt am Wahltag beobachtet werden, teils erkennt man diese an der Politik der letzten Jahre. Als Delegation wird versucht, Öffentlichkeit dafür herzustellen, da vieles vor Ort selbst nicht mehr möglich ist. Zudem ist aber auch die Aufgabe jeder Delegation, sich selbst für ein Ende dieser Politik einzusetzen. Das bedeutet beispielsweise für die Bundesrepublik, aktiv gegen die Unterstützung anzugehen, die die Bundesregierung Erdogan gewährt, sei es aus politischem Kalkül oder wegen der Interessen der deutschen Rüstungsindustrie. Abgesehen von den Begegnungen mit den Menschen in Kurdistan, die trotz all dieser Angriffe dennoch immer wieder sagen: „Wir werden siegen!“ und von deren Willensstärke viel gelernt werden kann, bieten die internationalen Zusammenkünfte auch die Möglichkeit, sich zu vernetzen und Verbindungen zueinander aufzubauen, um das System, das hinter dem Vernichtungsfeldzug gegenüber der kurdischen Bevölkerung steht, vereinter zu bekämpfen.

Delegationsreise Nord-Irak (2019)

Delegationsreise auf Einladung der Yezidischen Konföderation im Nordirak

In der zweiten Oktoberwoche, in der der Angriff der Türkei auf Rojava (Nordsyrien) begann, bereiste eine zivilgesellschaftliche Delegation Südkurdistan (Nordirak). Diese Delegation setzte sich zusammen aus Pädagog*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Ärzt*innen, IT-Spezialisten, Verwaltungs-Fachleuten und Vertreter*innen verschiedener NGOs sowie des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein und aus Parlamentarier*innen aus dem Bundestag, der Hamburgischen Bürgerschaft, dem Schleswig-Holsteinischen Landtag sowie der Altonaer Bezirksversammlung.

Die Reise erfolgte auf Einladung der Yezidischen Konföderation im Nordirak. Ziel war die Region um den Şingal-Berg (Shengal-Gebiet), wo sich Siedlungsgebiete der ethnisch-religiösen Minderheit der Yezid*innen befinden. Die Delegation wollte dort u. a. Projekte besuchen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten.

Der Islamische Staat (IS) drang bei seiner Offensive 2014 in diese Gebiete vor und verübte mit extremer Grausamkeit einen Genozid an den dort lebenden „ungläubigen“, (nicht-muslimischen) Menschen. Über 5000 Yezid*innen wurden ermordet, 7000 Frauen und Kinder versklavt und systematisch vergewaltigt. 400.000 Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Noch heute gelten 2000 Frauen als verschollen.

Nach langwierigen und schwierigen Diskussionen um Genehmigungen zur Weiterreise erreichte die Delegation das kurdische Flüchtlingslager Machmur (kurdisch Mexmûr) zwischen Mossul und Erbil (kurdisch Hewlar), 250 km östlich der türkischen Grenze. Dieses befestigte Lager, in dem etwa 13.000 Geflüchtete leben, entstand aufgrund der Vertreibung der Menschen aus dem türkischen Teil Nordkurdistans durch die türkische Armee im Jahre 1993.

Trotz aller Widrigkeiten gelang es in den letzten Jahren, in Machmur ein weitgehend funktionierendes Gesundheitssystems aufzubauen. Dessen Weiterbestehen ist nun durch das seit drei Monaten anhaltende Embargo seitens der Barzani-Regierung in Südkurdistan gefährdet. Die Delegation besuchte das Gesundheitszentrum. Überwiegend ehrenamtlich versorgen hier fünf Ärzt*innen, vier Hebammen, zwei Physiotherapeuten, zwei Apothekerinnen und sechs Pflegekräfte das Lager sowie zahlreiche irakische Dörfer in der Umgebung. Es gibt sechs Behandlungsräume, einige wenige Notfallbetten, einen Frühgeborenen-Inkubator, ein einfaches Labor, ein veraltetes Ultraschall-Gerät sowie eine einfache Röntgenanlage. Kompliziertere Operationen oder Kaiserschnitte vorzunehmen ist jedoch nicht möglich.Seit Kurzem besitzt das Gesundheitszentrum einen nagelneuen Ambulanzwagen, gespendet von italienischen Hilfsorganisationen, mit dem Patienten im Notfall oder zur Dialyse nach Mossul oder Erbil gefahren werden können. Unsere Delegation konnte eine beträchtliche Menge dringend benötigter Antibiotika sowie Geldspenden zur Beschaffung von Betten, Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln übergeben.

Mindestens ebenso eindrucksvoll für uns war der Besuch des Tageszentrums Navenda Hevi (Hoffnung) zur Förderung von Kindern mit Handicap. Hier arbeiten sechs Psycholog*innen und Heil-Therapeut*innen, die vor allem Kinder mit Autismus-Spektrumsstörung oder Down-Syndrom in ihrer Entwicklung fördern. Die Förderung umfasst die feinmotorische Bewegung, musische und lebenspraktische Bereiche sowie Sport.

Es zeugt von ausgeprägtem Humanismus, sich unter äußerst bescheidenen und bedrängten Lebensverhältnissen den Bedürfnissen und der Förderung schwerbehinderter Menschen zu widmen. Für eine noch bessere Gesundheitsversorgung, die unter anderem die Früherkennung von Tumoren ermöglicht, benötigt das Flüchtlingscamp in Machmur jedoch dringend ein neues 3,5- und 10-MHz-Sonographiegerät für etwa 20.000 Euro.

Delegationsreise nach Rojava (2018)

Impressionen einer Delegationsreise

von Robert Jarowoy

Als ein elfköpfiges Team von LinkspolitikerInnen und FilmemacherInnen/FernsehjournalistInnen fliegen wir mit zwei DolmetscherInnen nach Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregierung in Nordirak.

Hier war ich zuletzt vor 7 Jahren. Damals war Erbil (Hewler) eine quirlige Stadt, in der sich ausländische Firmen die Klinke in die Hand zu geben schienen. Überall sah man die Leuchtschilder der Vertretungen vor allem deutscher Firmen wie Siemens, Bosch, Züblin oder Daimler. Ganz anders in diesem Jahr. Ein nahezu verwaister Flughafen, der aus Europa nur noch von Austrian Airlines angeflogen wird, ansonsten von Turkish Airlines, Egypt Airlines, einer pakistanischen und einer inländischen Airline aus Baghdad. Am Flughafen die letzten beiden verbliebenen Autovermietungsfirmen mit einem Gemeinschaftsstand: Hertz und Europcar.

Nun ja, bis vor zwei Jahren war das kurdische Autonomiegebiet in Südkurdistan bzw. Nordirak ein Hort der Stabilität gewesen. Keine Selbstmordanschläge, keine Dschihadisten und auch keine Gefahr einer sozialistischen Revolution, wie wir sie in den kommenden Tagen in Rojava hautnah erleben sollten. Dann aber 2015 der Schock, als die Dschihadisten des Islamischen Staates zunächst Mossul überrannten, Nord-Syrien weitgehend besetzten und zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich kurz vor Erbil standen. Genau wie die irakische Armee hatten die kurdischen Peshmerga der Barsani-Regierung des Autonomiegebietes keinerlei Widerstand geleistet, sondern waren unter Zurücklassung ihrer militärischen Ausrüstung abgehauen. Erst der Widerstand der PKK-Guerilla hatte vor allem in Sincar und bei Maxmur zum Rückzug der Dschihadisten geführt.

Danach hatte sich das geschockte ausländische Kapital zumindest personell zurückgezogen. Von den 500 Luxushotels wurden die Hälfte geschlossen. Auch in unserem 3-Sterne-Hotel waren wir die einzigen Gäste. Wie die Geschäftsleute waren auch die Touristen aus Baghdad und den Emiraten weggeblieben, die – sofern Beirut ihnen zu teuer war – hier ganz entspannt hatten einkaufen und sich amüsieren können. Im Christen-Viertel von Erbil gibt es sogar Whisky-Bars und Kioske mit Efes-Bier.

Nun hatte Barsani als Chef der kurdischen Autonomie-Regierung 2017 im Schatten des fluchtartigen Rückzuges zunächst der irakischen Armee und dann des IS als Reaktion auf den Widerstand der PKK-Guerilla sein ihm völkerrechtlich und in der irakischen Verfassung festgeschriebenes Territorium nahezu verdoppelt, indem er sich insbesondere die erdölreiche Region um Kirkuk still und heimlich einverleibt hatte. In einem Anflug von Größenwahnsinn hat er im Herbst 2017 in diesem Gebiet und seinem bisherigen Territorium ein Referendum durchführen lassen, das über die völlige Loslösung vom Irak entscheiden sollte und in seinem Sinne überwältigend positiv von der kurdischen Bevölkerung entschieden wurde. Die Antwort der nach dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des IS wiedererstarkten irakischen Regierung war eindeutig. Kirkuk und alle anderen dazugewonnen Gebiete wurden im Herbst 2017 binnen zwei Tagen ohne irgendeinen Widerstand von Barsanis Peshmerga-Truppen wieder Baghdad unterstellt – genau wie die beiden Flughäfen des Barsani-Gebiets, die bis März 2018 von der irakischen Regierung für den internationalen Flugverkehr gesperrt worden waren. Nachdem Barsani daraufhin erklärte, dass das Referendum für die Unabhängigkeit gar nicht so gemeint war, durfte er unter Verlust des gesamten zugewonnen Territoriums der Kurdischen Regional-Regierung den Flughafen in seiner Hauptstadt Erbil wiedereröffnen, was aber außer bei den ÖsterreicherInnen zumindest in Europa bislang nicht so vertrauenschaffend wirkte und auch eine zumindest Halbierung der Erdöleinnahmen mit sich gebracht hatte.

Wir fahren von Erbil aus mit zwei Autos zu dem einzigen offiziellen Grenzübergang zwischen der Kurdischen Autonomie Regierung (Barsani) und Rojava am Harbur-Fluss. Da bei uns die Bundestagsabgeordnete Zaklin Nastic mitgereist war, die zuvor über den Deutschen Bundestag eine Einreiseerlaubnis für sich und ihre Begleitung bekommen hatte, durften wir nach allerlei Stempelformalitäten den Fluss in einem kleinen Motorboot passieren.

Auf der anderen Seite war Rojava, wo ich noch nie zuvor gewesen war, gleichwohl ich dreißig Jahre lang verschiedenste Gebiete Kurdistans regelmäßig besucht hatte. Mein erster Eindruck war, dass ich in der Passstelle über dem Schreibtisch der Zuständigen ein großes Portrait Abdullah Öcalans als Staatschef sah. Das war für mich hammerhart. Hatte ich 1991 Apo doch im Libanon persönlich kennengelernt und mit höchstem Respekt verfolgt, wie er in seinen Analysen und der Kraft seiner unter den KurdInnen überall anerkannten Führungspersönlichkeit richtungsweisend bewirkt hatte, dass sich die PKK von einer marxistisch-leninistischen zu einer marxistisch-anarchistischen Bewegung entwickelte. In der Analyse des Kapitalismus und dessen zwangsläufiger Konsequenz von Krieg und Ausplünderung marxistisch, in der Frage des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsform, sowohl in demokratischer als auch ökonomischer Hinsicht eher anarchistisch, geleitet von dem Gedanken der Kooperativen, der Gleichberechtigung der Geschlechter und Ethnien sowie des Konföderalismus.

Nun hing da plötzlich das Bild Apos als Staatsoberhaupt, während das Zeigen seines Bildes auf einer Fahne in Deutschland unter Strafe steht, weil es Förderung des Terrorismus bedeutet. Natürlich dachte ich an Mandela, der 25 Jahre im Knast saß – Apo hat es bis jetzt erst auf 19 Jahre gebracht – und wünschte mir, dass ihm vielleicht doch noch vor seinem Tod oder seiner Ermordung die gleiche ihm genauso zukommende Ehre und Funktion wie Mandela zu Lebzeiten zukommen mögen sollte.
Empfangen bzw. begrüßt wurden wir von einem Komitee, das extra für uns gekommen war. Nach einigen gegenseitigen Ansprachen wurden wir auf zwei oder drei Autos verteilt, die voran- und hinterherfahrend von einer schwerbewaffneten Eskorte begleitet wurden.

Wir fuhren zwei oder drei Stunden durch eine bergige Region, die vor allem von Schwengelpumpen geprägt waren, wie ich sie auch aus Niedersachsen oder der Gegend um Batman, der Erdölmetropole der Türkei in der nach Diyarbakir und Wan wohl größten kurdischen Stadt in der Türkei kenne. Diese Pumpstationen, hatte man mir dort erklärt, förderten kein Erdöl, sondern pumpten Luft in die unterirdischen Ölfelder, um mittels des dadurch entstehenden Drucks das Öl andernorts zum Heraussprudeln und damit zum Abzapfen zu bringen. Unser Fahrer berichtete, dass die einst staatlich vom (Assad-)Regime kontrollierte Erdölproduktion in Rojava zunächst in die Hände des IS gefallen sei und dann von den KurdInnen übernommen wurde. Sie hätten sogar zumindest eine Raffinerie unter ihrer Kontrolle. Das so gewonnene Benzin bzw. den Diesel würden sie neben dem Eigenverbrauch nunmehr an das Regime verkaufen (womit Assad bezeichnet wird), während Rohöl an die Kurdische Autonomie Region (Barsani) geliefert würde, nachdem dieser die Ölquellen bei Kirkuk und Mossul an den irakischen Zentralstaat hatte abgeben müssen. Diese Angaben wurden uns später mehrfach bestätigt.

Dann kamen wir nach Quamislo, einer seit der kolonialen Aufteilung der Region nach dem 1. Weltkrieg zwischen der Türkei und Syrien geteilten kurdischen Großstadt. In dem türkischen Teil (Nusaybin) war ich mit Menschenrechts- oder Wahlbeobachtungs-Delegationen schon oft gewesen. Zuletzt 2015, kurz bevor die Stadt von der türkischen Armee weitgehend zerstört wurde, nachdem sich die Menschen samt ihrer Verwaltung von der Türkei losgesagt hatten. Nun sahen wir diesmal in der umgekehrten Richtung von Qamislo nach Nusaybin hinüber, über die in den vergangenen zwei Jahren von der Türkei errichtete 900 km lange von Stacheldraht bekränzte Betonmauer, die der einstigen Grenzbefestigung der DDR um nichts nachstand.

Im Stadtrat von Qamislo wurden wir wie eine Staatsdelegation von den stets weiblich/männlich Co-Vorsitzenden der politischen und der Verwaltungsebene empfangen. Natürlich kreisten die Gespräche neben den üblichen Höflichkeiten immer wieder um die Frage, wie es denn möglich sein könne, dass Deutschland und Russland der Türkei den Einmarsch ihrer Truppen und Milizen in Afrin und deren Bombardierung durch NATO-Kampfjets gestattet und die Amerikaner dabei zugesehen hätten. Diese Fragestellung ergab sich bei allen weiteren Gesprächen, und außer unserer Antwort, dass wir beschämt seien und natürlich weiter dagegen publizistisch und im Bundestag angehen würden, konnten wir nicht viel Mutmachendes erwidern.

Nach der herzlichen Verabschiedung wurden wir mit unserer Eskorte in das 30 km entfernte Amoude gebracht – eine Kleinstadt von gut zehntausend Einwohnern, in der die Gesamt-Rätevertretung/Parlament von Rojava tagt, wo wir in deren Gästehaus untergebracht wurden.
Nach einem längeren Gespräch mit den SprecherInnen der Rätevertretung – einem Kurden und einer assyrischen Christin – fuhren wir weiter westlich nach Kobani, jener legendären Stadt, in der nach einem mehrmonatigen Widerstand im Februar 2015 der Siegeszug des IS erstmals durchbrochen wurde. Bei den Auseinandersetzungen waren 70% der Hunderttausend-Einwohner-Stadt zerstört worden. 48 Selbstmordattentäter – vorwiegend junge Männer aus Frankreich und Deutschland – hatten sich dort in die Luft gesprengt. Die Amerikaner hatten die durch die Wüste wie auf dem Präsentierteller heranrückenden Wagen-Kolonnen des IS erst angegriffen, nachdem sie das Stadtzentrum erreicht hatten. Die Folge waren unermessliche Verluste unter der Zivilbevölkerung, den verteidigenden KämpferInnen der YPG/YPJ – mindestens 2000 von ihnen sind gefallen – und Zerstörungen der Stadt, von der seither 40-60.000 Wohnungen wiederaufgebaut wurden. Als jemand, der seit vielen Jahren in Altona mit Stadtplanung befasst ist, war ich von dieser Aufbauleistung genauso tief beeindruckt wie von der stadtplanerischen Gestaltung. In einem Zementwerk, das noch aus der Zeit des Regimes stammt, wurden seit der Befreiung der Stadt vom IS Megatonnen Bauschutt zermahlen und zu Zement verarbeitet, und das in einem Rund-um-die-Uhr-Betrieb. Stadtplanerisch sagten mir die Mitglieder der Baukommission (natürlich paritätisch weiblich/männlich besetzt), dass sie zwar neben kommunalen auch mit privaten Baufirmen zusammenarbeiten würden, aber grundsätzlich keine Genehmigungen für mehr als dreigeschossige Bauvorhaben mit einem Staffel-/Dachgeschoss erteilen würden und der Zuschnitt der Wohnungen familiengerecht von den dafür zuständigen Komitees festgelegt würde. Auch die Höhe der Mieten wird in diesen Räten festgelegt, wobei bedürftige Familien, deren Hauptversorger gefallen sind, gar nichts oder fast nichts bezahlen müssen.

Nach einem Besuch mit Kranzniederlegung auf dem Märtyrerfriedhof von Kobani wurden wir zu einer im Krieg berühmt gewordenen Anhöhe gefahren, von der aus der IS die Region beherrscht hatte, die dann aber von den kurdischen FreiheitskämpferInnen verlustreich zurückerobert worden war. Der während der Belagerung Kobanis zuständige Oberkommandierende der YPG, der inzwischen Verteidigungsminister Rojavas geworden war, sagte uns, er habe immer wieder versucht, mit den Kommandeuren des IS zu verhandeln, um das schlimmste an kriegerischen Auseinandersetzungen zu vermeiden. Das sei aber nicht möglich gewesen, da diese immer wieder durch ihre Berufung durch Allah und ihren Aufstieg in der Punkteskala zum Paradies geredete hätten, was ihnen keine Wahl ließe. Die Anführer waren nach seiner Aussage Araber aus Rakka oder dem Irak, während die für die YPG-Kämpferinnen verlustreichsten Scharfschützen aus Tschetschenien oder Afghanistan kamen. Die Selbstmordattentäter fast ausschließlich aus Europa, denen versprochen worden war, dass sie im Paradies eine große Menge von Engeln, Jungfrauen bzw. Sexsklavinnen (die Abgrenzung war schwimmend) erwarten würden, wobei deren Zahl davon abhinge, ob sie durch eine Bombe getötet worden (höchste Priorität), im Kampf gegen einen Mann gefallen seien (mittlere Priorität) oder durch eine Frau getötet wurden (Leerausgang). Deswegen hatten die Dschihadisten am meisten Angst vor der kurdischen Frauen-Guerilla (YPJ), erzählte mir der Oberkommandierende. Wenn der Hintergrund mit Tausenden Toten nicht so entsetzlich wäre, hätte man sich schmunzelnd/kopfschüttelnd an die Stirn fassen können.

Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Minbij, einer Stadt mit wohl eher hunderttausend EinwohnerInnen. Dort gab es zwar auch einen arabisch/kurdischen Co-Vorsitz des Stadtrates mit einer Araberin als Sprecherin, allerdings erschien nach einiger Zeit, in der mehr Höflichkeiten ausgetauscht wurden, der wohl mächtigste arabische Scheich der Region und riss die Gesprächsführung sofort an sich. Auf Fragen verhielt er sich zwar sehr wortgewaltig, aber ohne irgendeine Konkretisierung. Weder in Bezug auf die Russen/Assad noch auf die Türkei mit ihren dschihadistischen Milizen noch auf die Amerikaner und Franzosen mit ihren undurchsichtigen Plänen.

Unsere Gesprächsanfrage mit den Amerikanern und Franzosen war zuvor brüsk abgelehnt worden. Wenn ich, während ich diese Zeilen schreibe, ständig befürchte, dass Erdogan den mehrfach angekündigten Angriff zur ‚Befreiung‘ von Minbic mit amerikanischer Unterstützung noch vor der türkischen Parlaments- und Sultanswahl am 24.6. einleitet, denke ich an all diese dort lebenden Menschen, denen dasselbe Schicksal wie in Afrin droht, wo kaum hundert Kilometer entfernt inzwischen unter dem Schutz der NATO die Scharia wiedereingeführt wurde, nach der Frauen nur vollverschleiert in Begleitung ihres Gatten oder Bruders auf die Straße dürfen. Von den öffentlichen zur Schau gestellten Hinrichtungen von angeblichen Schmugglern oder gar YPG-Unterstützern ganz zu schweigen.

Danach besuchten wir den obersten Militärrat Rojavas, der zwar einen äußerst eloquenten englischsprachigen Sprecher hatte, aber ansonsten natürlich auch geschlechterparitätisch besetzt war. Dort wurde uns mehr von den letzten Kämpfen gegen den IS in Deir-Zor berichtet, wo immer noch täglich bis zu 24 unser KämpferInnen fallen, als von den vermutlich bevorstehenden viel schwerwiegenderen Auseinandersetzungen um Minbic.

Danach besuchten wir ein Ausbildungs-Camp der YPJ, der Frauen-Guerilla. Frauen sind in Rojava im Gegensatz zu Männern nicht wehrpflichtig. Allerdings beteiligen sich ca. 30% der jungen Frauen freiwillig am Militärdienst und sind mit Feuereifer dabei , für die erworbenen Rechte als Frauen notfalls auch in den Tod zu gehen. Die jungen Frauen in Uniformen, die z.T. aber auch neben ihrer militärischen Ausbildung mit Lippenstiften geübt hatten, kicherten über mich als einen Weihnachtsmann und wollten gerne mit mir fotografiert werden – vermutlich, um die Fotos ihren Eltern zur Beruhigung zu senden.

Als abschließenden Teil meines Berichtes möchte ich noch das Frauen-Dorf erwähnen. Von dem Frauen-Dorf hatte ich schon in Altona gehört, war aber nicht wirklich davon überzeugt. Was wir vorfanden, hat mich allerdings eines Besseren belehrt. Frauen hatten unter dem Koordinationsrat des Frauenkomitees unter Mithilfe von kurdischen Männern und Internationalistinnen eine Viertelmillion Lehmziegel aus dortigem Boden gestochen, geformt und verarbeitet und damit 30 Häuser errichtet, die ausschließlich für Frauen mit oder ohne Kinder vorgesehen sind. Brunnen bis in 200 m Tiefe wurden gebohrt, um die vielfältige Landwirtschaft mit Aprikosen-, Granatapfel- und Olivenbäumen voranzubringen. Genau wie Gemüsebeete und aufzubauende Schaf-/Ziegenherden mit angedockter Käseproduktion. Geplant sind in diesem Dorf ein Gesundheitszentrum, eine Bäckerei und Werkstätten aller Art. Männer dürfen sich jederzeit am Aufbau dieser Strukturen, haben aber nicht wirklich etwas zu sagen, was genau wie von der kurdischen Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern wie auch von mir etwas kritisch gesehen, aber irgendwie doch als etwas tolles Neues empfunden wird.

Wahlbeobachtungsdelegation zur Parlamentswahl in der Türkei und Nordkurdistan (2015)

TeilnehmerInnen der Hamburger Delegation:
Wolfhart Berg, Jörn Breiholz, Sabine Caspar, Norbert Hackbusch, Enno Jaeger, Robert Jarowoy, Yilmaz Kaba (Dolmetscher), Susanne Klewitz, Blanca Merz, Erhard Mollwitz, Cai Pfannenschmidt, Beate Reiss, Brigitte Reiss, Wolfgang Ziegert

Die Delegation reiste als Beobachterdelegation des außenpolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion DIE LINKE Jan van Aken

05.06.2015

Wir treffen im Hotel in Diyarbakir ein. Nach dem langen Flug mit Umsteigen und Wartezeiten in Istanbul fast ein Nachhausekommen für einige von uns, die schon häufiger im Rahmen von Kurdistan-Delegationen in diesem Hotel abgestiegen sind. Aber anders als gewohnt, fällt die Begrüßung an der Rezeption sehr ernst aus. Wir fragen nach und erfahren, dass vor wenigen Stunden während der Abschluss-Wahlveranstaltung der HDP mit mehreren hunderttausend TeilnehmerInnen Bomben detoniert seien und es mindestens 2 Tote gegeben habe und unzählige Verletzte. Später stellt sich heraus, dass es 4 Tote, 20 Schwerverletzte und 200 Leichtverletzte waren.

Zwei junge Kurdinnen aus Bremen und ein Journalist aus Hamburg erzählen uns, dass sie noch Minuten zuvor am Ort des Geschehens neben der Tribüne gestanden hätten, einen Tee trinken gegangen wären und dann wegen der Detonationen zurückgekehrt seien und schreckliche Szenen mit massenhaft Verletzten gesehen hätten. Tatsächlich hat es sich, wie sich unmittelbar danach herausstellte, um Streu-Splitterbomben gehandelt.

Im weiteren Verlauf des Abends erfahren wir, dass unsere 15köpfige Hamburger Wahl- BeobachterInnen-Delegation für Adana vorgesehen sei. Da die Entfernung nach Adana ca. 600 km beträgt, sind wir wenig begeistert von der Vorstellung, am kommenden Tag diese Strecke in glühender Hitze in einem Bus zurücklegen zu müssen. Wegen des Anschlages, des damit verbundenen Durcheinanders und dem Wahltermin am Sonntag lässt sich das aber nicht mehr diskutieren, und wir fahren am Sonnabend mit einem gecharterten Kleinbus morgens los und kommen nicht zuletzt wegen eines bei voller Fahrt geplatzten Reifens erst am Abend in Adana an, wo wir uns in einem Hotel einquartieren, weil wir das Angebot, bei Familien aufgenommen zu werden, zwar sehr nett finden, aber aus technischen Gründen ausschlagen, da wir nur einen Dolmetscher haben und gerne zusammenbleiben wollen, um am kommenden Morgen, dem Wahltag, unsere Beobachterfunktion wahrnehmen zu können.

Am kommenden Sonntagmorgen werden wir in der HDP-Zentrale, einem viergeschossigen im Zentrum gelegenen Haus sehr herzlich in einem geschäftigen Durcheinander empfangen, mit Tee bewirtet und in den im zweiten Stockwerk gelegenen Versammlungsraum geführt, in dem vor wenigen Tagen eine Bombe, die als Geschenk in einem Blumentopf versteckt war, unmittelbar nach einer aus Wahlkampfgründen verkürzten Sitzung explodiert war und den ganzen Raum total verwüstet hatte. Die Fenster und Teile einer Zwischenwand waren herausgesprengt und das Mobilar zerstört. Wenn die Detonation während der Sitzung erfolgt wäre, hätte es viele Tote und/oder Schwerverletzte gegeben. Die Einteilung der inzwischen 25 ausländischen BeobachterInnen verläuft ziemlich chaotisch, weil es an Dolmetschern, Pkw’s und Ansteckschildern mangelt, die uns als offizielle WahlbeobachterInnen der HDP ausweisen. Nach einigem Hin und her mit viel Lachen, Tee und Selbstironie klappt dann aber doch alles irgendwie, und wir schwärmen aus.

Die Erlebnisse sind sehr unterschiedlich und lassen sich in diesem Bericht nur subjektiv darstellen. Während die eine Beobachtergruppe damit konfrontiert wurde, dass z.T. bis in die Hunderte gehende Menschen – vermutlich überwiegend Flüchtlinge – nicht in die Wahllisten eingetragen waren, war es anderswo völlig anders. Hierzu der Bericht einer anderen Gruppe: Zwei VertreterInnen der Linken aus Altona und ein Journalist begeben sich im Kleinwagen eines HDPVorstandsmitgliedes auf den Weg. Der HDPler ist halb Armenier, halb Türke und hat eine kretische Großmutter. Die Gruppe steuert das erste Wahllokal an, das sich wie fast alle Wahllokale in einem Schulgebäude befindet und in einem kurdischen Viertel Adanas liegt. Adana ist eine 2-Millionen-Stadt und liegt nicht in Kurdistan, sondern weit westlich und unmittelbar fast am Mittelmeer, hat aber durch Arbeitsemigration und Flüchtlinge einen geschätzten ‚Kurdenanteil‘ von ca. 500.000, wobei die KurdInnen weitgehend in Vierteln wohnen, die sehr kurdisch und sehr wenig türkisch anmuten.

Da fragt man sich, was ist denn eigentlich ‚kurdisch‘ und was ‚türkisch‘? Das kann man nur sehr gefühlsmäßig beantworten. Für uns ist es die bei den KurdInnen stets gemeinschaftliche Lebensweise, die sich darin niederschlägt, dass man meistens und immer alles zusammen macht, ohne dabei Druck auf die individuellen Eigenarten der einzelnen auszuüben. Gemeinsames Tanzen in Reihen – anstatt zu Paaren – und Singen mit VorsängerInnen und einfallenden Wechselchören gehören genauso zur Mentalität, die allerdings nicht gentechnisch vererbt ist, sondern sich in der gemeinsamen Sozialisation unter Bedingungen extremer Unterdrückung und Assimilationszwängen (noch heute ist in der Türkei der muttersprachliche Unterricht für Kurden verboten) im Widerstand herausgebildet hat. Dass die KurdInnen dabei nicht verbittert sind, sondern mit der ihnen eigenen herzlichen Art ihre Lebensweise immer und überall, wo sie leben oder leben müssen, durchsetzen, kannten wir schon aus Deutschland, erlebten es nun aber wieder an diesem Wahltag in Adana, das letztlich wie Deutschland ein Zufluchtsort der kurdischen Diaspora ist.

„In dem ersten Schulhof der von uns besuchten Wahllokale ist nahezu Volksfeststimmung. Man will die Wahlurnen beschützen und freut sich gleichzeitig, den Sonntag mit Freunden verbringen zu können. Jugendliche beiderlei Geschlechts – nicht vielleicht wirklich miteinander, aber doch sehr dicht beisammen, Eltern mit Kleinkindern und Babys, ältere und sehr alte Männer und Frauen stehen beieinander, diskutieren über den erhofften Wahlausgang und die sich dann ergebenden Möglichkeiten. Aber neben fliegenden Händlern mit Döner und Ayran sagen die Menschen uns immer wieder voller Stolz, dass diese Wahl von historischer Bedeutung ist, weil sie das Bündnis fast aller in der Türkei vertretenen linken Kräfte und ethnischen Minderheiten darstellt. Unser multiethnischer Rechtsanwalt aus dem HDP-Vorstand wird von unglaublich vielen Menschen begrüßt. Auf unsere Nachfrage hin sagt er, dass das fast alles Angehörige von Mandanten seien, die bis zu 2 Jahren Gefängnis-Anklagen und z.T. auch entsprechende Urteile erhielten, weil sie Öcalan im Rahmen einer Kampagne öffentlich ‚Herrn Öcalan‘ genannt hatten, was nach türkischem Recht eine verbotene Anrede für Kriminelle ist.

Wir treffen dann im nächsten Wahllokal einen Kurden, einen Freund unseres Rechtsanwaltes, der als PKK-Aktivist 10 Jahre unter schwerster Folter im Gefängnis verbracht hat und dann nach einem 62tägigen kollektiven Hungerstreik hunderter politischer Gefangener kurz vor dem Tod in ein Krankenhaus verlegt wurde, aus dem er floh und dann nach jahrelangem Aufenthalt in Russland nach Verjährung seiner Reststrafe zurückkehrte und nach Adana verschlagen war. Ein weiterer Freund, ein armenischer Lehrer aus Istanbul, der sich wegen des Wahlkampfes in Adana aufhielt, sollte auch noch mit, weswegen wir nun zu sechst in dem Kleinwagen des Rechtsanwaltes die Weiterfahrt von Wahllokal zu Wahllokal antraten.

In den kurdischen Gebieten wollten sich die Menschen immer wieder mit uns zusammen auf den Schulhöfen fotografieren lassen, oft mit den zwei zum Victory-Zeichen gespreizten Fingern. In den türkisch geprägten Mittelstandswahllokalen sah das dann ganz anders aus. Kühl distanziert schritten die Leute einzeln oder allenfalls als Paare zur Wahl und gingen nach ihrer Stimmabgabe wieder. Keine Döner-Buden, keine Gemeinschaftsfotos, kein Tanzen.

Am Abend, als ziemlich feststand, dass die HDP deutlich die 10%-Sperrklausel überschritten haben würde, brach Jubel aus. Spontane Autokorsos fuhren stundenlang durch die Stadt. Auf den hupenden Pickups und Klein-Lkws Dutzende Jugendliche fahnenschwenkend und Parolen rufend, vorzugsweise ‚biji Serok Apo‘, wodurch wohl zum Ausdruck gebracht werden sollte: Wir Kurden, haben gemäß unserer Hymne Ey Raqip bewiesen, dass wir allen Feinden erklären, dass wir niemals aufgeben werden, für unsere Freiheit zu kämpfen, und dass wir mit den meisten linksgerichteten bzw. die Menschenrechte achtenden Kräften in der Türkei sowie den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten wie den Yesiden, den Assyrern, Aramäern, Armeniern ein Bündnis geschlossen haben, was es noch nie zuvor in der Türkei gab und damit erfolgreich waren. Und das in einer für den Mittleren Osten einzigartigen Weise in einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen, in der eine Doppelspitze für alle Führungspositionen zwingend verlangt wird.

Am Montag, den 8.6., verlassen wir Adana und fahren wieder ostwärts nach Suruc, der 100.000 Einwohner zählenden Stadt auf der türkischen Seite gegenüber von Kobani. Wir werden von der Bürgermeisterin empfangen, die uns die Situation schildert. Die mehr als hunderttausend kurdischen Flüchtlinge sind mittlerweile fast vollzählig wieder in das zu 80% zerstörte Kobani zurückgekehrt. Geblieben sind in zwei sehr großen, nicht zugänglichen Zelt- bzw. Containerlagern vor allem arabische Flüchtlinge, die vom türkischen Staat versorgt werden, während zuvor für die kurdischen Flüchtlinge fast nichts getan worden war. Diese waren allein auf die Unterstützung durch ihre Verwandten und die geringen Möglichkeiten der kurdischen Kommunalverwaltung von Suruc angewiesen. Von den 7 Mio. Dollar, die die UNO (UNHCR) für die Flüchtlingshilfe bereitgestellt habe, seien gerade mal 500.000 Dollar bei der Stadtverwaltung angekommen. Wo der ‚Rest‘ geblieben sei? Beim Staat.

Wir fragen nach dem Islamischen Staat IS und erfahren, wie später in noch sehr viel deutlicheren Worten, dass jeder wisse, dass deren Kämpfer auf türkischem Gebiet in Grenznähe trainiert und dann unauffällig nachts über die nahezu geschlossene Grenze in das Gebiet von Rojava geschleust würden. Dies geschehe zwar nicht offiziell, aber man sehe ständig Busse und Pkw’s mit arabischen Kennzeichen, die bei der Gendarmarie bzw. dem Militärstützpunkt ein- und ausgingen und dort wie Freunde empfangen würden.

Für die Kurden hingegen sei es nur unter äußersten Schwierigkeiten möglich, gewisse Hilfsleistungen über die Grenze zu bringen, weswegen eine ihrer Hauptforderungen darin bestünde, einen Versorgungskorridor nach Rojava einzurichten. Das würde von der Türkei aber strikt abgelehnt und von der Weltgemeinschaft nicht wirklich gefordert. Des weiteren fragt die Bürgermeisterin uns, wie es angehen könne, dass Deutschland die PKK immer noch auf ihrer Terrorliste stehen habe, wo doch jeder sehen könne, dass die PKK der einzige Garant in der Region für Menschlichkeit und Demokratie sei. Wir sagen ihr, dass wir in Deutschland leider nicht die Regierung stellen würden, dass Die Linke als Oppositionspartei sich aber immerhin konsequent für die Aufhebung des PKK-Verbots eingesetzt und die HDP wie die griechische SYRIZA zu ihrer Schwesterpartei erklärt und dies entsprechend verhandelt habe.

Wenig später trifft der Ministerpräsident des Kantons Kobani im Rathaus von Suruc ein, da am Abend eine Siegesfeier der HDP auf dem großen Platz vor dem Rathaus stattfinden solle. Wie er es überhaupt geschafft hat, über die Grenze zu kommen, hinterfragen wir nicht. Er bestätigt all das, was wir schon von der Bürgermeisterin erfahren haben, und schildert uns die aktuelle Lage ohne fließend Wasser, Strom nur aus Generatoren, mit zerstörten Häusern, einer verwüsteten und niedergebrannten Landwirtschaft, versehen mit Sprengfallen und Blindgängern, die vor allem die Kinder lebensbedrohlich gefährden und die Räum- und Wiederaufbauarbeiten stark behinderten. Der IS sei zwar ca. 40 km weit nach Süden zurückgedrängt, aber die drei kurdischen Kantone Cizire, Kobani und Afrin hätten immer noch keine Verbindung miteinander, die Kämpfe gingen weiter, und jeden Tag gebe es gefallene Kämpferinnen und Kämpfer, gerade heute sei ein amerikanischer Freund gefallen.

Zur Siegesfeier strömen von allen Seiten hunderte Menschen herbei. Von der Bühne her tönt aus gewaltigen Lautsprechern Live-Musik mit Trommel und Flöte, den klassischen kurdischen Musikinstrumenten. Dazwischen immer wieder agitatorische Kurzreden, während von allen Seiten Feuerwerksraketen knallen, Fahnen geschwenkt und Parolen gerufen werden: Biji berxwedan YPG, biji berxwedan PKK – es lebe der Widerstand der Selbstverteidigungskräfte von Rojava – die YPG – und die PKK.

Am nächsten Tag fahren wir nach Ceylanpinar, das ähnlich wie Suruc und Kobani oder – weiter im Osten Nusaybin und Qamislo – mit der gegenüberliegenden Stadt Serekanije früher eine zusammenhängende kurdische Stadt war, die erst nach dem 1. Weltkrieg durch die kolonialistisch-imperialistischeGrenzziehung geteilt und Frankreich zugeschlagen wurde. In Ceylanpinar war vor einem Jahr der seit 10 Jahren im Amt befindliche HDP-(vormals BDP-)Bürgermeister durch einen unglaublichen Wahlbetrug abgewählt worden. Ein zweistündiger Stromausfall während der Stimmenauszählung und einem danach völlig umgekehrten Ergebnis war damals inszeniert worden, weil man die Kontrolle über die Stadtverwaltung unbedingt in der Hand behalten wollte. Diesmal war das Ergebnis eines kleinen Städtchens für das Gesamtwahlergebnis der Türkei nicht mehr von Bedeutung, weswegen der Aufwand einer Wahlfälschung sich nicht gelohnt hätte, und prompt hatte die HDP – wie bei den Wahlen zuvor – einen Vorsprung von 7000 Stimmen.

Die zufällig Anwesenden in der HDP-Zentrale – die meisten Vorstandsmitglieder waren unterwegs, um an der Übergabe der Leichname gefallener KämpferInnen in Silopi und weiter im Osten gelegenen Städten teilzunehmen – berichteten uns, dass der arabische AKP-Bürgermeister, der gerne mal für Fotos Arm in Arm mit IS- bzw. Al-Nusra-Feldkommandanten posiert, mehr als 300 Angestellte der Stadtverwaltung entlassen und durch seine Leute ersetzt habe, etwas, was in den vorangegangenen 10 Jahren der HDP-Stadtverwaltung niemals geschehen sei, da habe man immer darauf geachtet, alle Ethnien gleich zu behandelt. Auch hier wird uns die offensichtliche Zusammenarbeit der türkischen Behörden und Jendarma-/Militärstützpunkte mit dem IS berichtet. Jeder hier wisse das, beweisbar sei es allerdings kaum, da es hinter den verschlossenen Toren der Militäreinrichtungen und der Stadtverwaltung vor sich ginge.

Als wir nach Diyarbakir in unser Hotel zurückkehren, werden wir dort mit einer sehr aufgeregten Stimmung konfrontiert. Eine Stunde zuvor hatten IS-nahe Jugendliche vor dem Hotel herumgeschossen und waren mit Pistolen bewaffnet in das Hotel gestürmt. Hintergrund ist der Anschlag auf den Vorsitzenden der zwischen dem IS und der AKP stehenden Hisbollah-Partei, dem dieser tags zuvor zum Opfer gefallen war. Nach diesem Attentat hatten seine Begleiter das Feuer auf Journalisten und Passanten eröffnet, was 3 HDP-Mitglieder das Leben kostete und 18 Personen dabei z.T. schwer verletzt wurden. Nun war der Trauerzug für den erschossenen Hisbollah-Chef mit Dutzenden Pkw’s und offenen Pick-up’s an unserem Hotel vorbeigefahren und dort aus verkehrstechnischen Gründen zum Stehen gekommen. Ein Mitglied einer französischen Delegation, die sich noch in Diyarbakir aufhielt, hatte vom offenen Fenster der Lounge des Hotels im 1. Stock durch Gesten den Zorn der Dschihadisten hervorgerufen, woraufhin sich eine Gruppe dieser mit ihren Pistolen ins Hotel begab, die Rezeption demolierte und den Franzosen suchte, was ihnen nicht gelang. Unverrichteter Dinge sprangen sie daraufhin wieder auf ihre Pick-ups und fuhren weiter. Wir trafen erst eine Stunde nach dem Vorfall im Hotel ein.

Nun ist eine Situation in der Türkei entstanden, in der es drei Machtblöcke gibt. Zum einen die AKP mit ihrer direkten Nähe zum Islamischen Staat, dann die beiden kemalistisch-nationalistischen Parteien CHP und MHP und die kurdisch-linksbündnerische HDP, in der sich alle ethnischen Minderheit und die meisten linken Kräfte aus der Türkei zusammengeschlossen haben. Was daraus werden wird, ist derzeit spekulativ. Die internationale Gemeinschaft sowie die internationale Staatengemeinschaft müssen ihren Druck geltend machen und handeln. Vor allem müssen sie ihren NATO-Partner Türkei zügeln sowie ihre wirtschaftlichen Partner Saudi Arabien und Katar zur sofortigen Beendigung der Unterstützung des IS auffordern bzw. mittels Sanktionen durchsetzen, um die universellen Werte Freiheit, Menschenrechte und Demokratie zu bewahren, die derzeit in Rojava und Sengal unter großen Opfern verteidigt und geschützt werden. Hierfür müssen die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava anerkannt und materiell unterstützt werden.

Unsere Forderungen als Konsequenz des Erlebten:

  • Schaffung eines humanitären Korridors von der Türkei aus in die befreiten Gebiete in Rojava
  • Öffnung der Grenze durch die Türkei für die Kurdinnen und Kurden sowie die Hilfslieferungen
  • Streichung der PKK von der Terror-Liste
  • Humanitäre Hilfe für die Menschen in Rojava
  • Druck auf die Türkei, Katar und Saudi-Arabien, ihre Unterstützung des IS einzustellen

Wahlbeobachtungsdelegation zu den Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan (2014)

Delegationsreise im Auftrag Jan van Akens anlässlich der Kommunalwahlen in die kurdischen Gebiete der Türkei

Die DelegationsteilnehmerInnen:
Robert Jarowoy, Beate Reiss, Michael Alberti, Sabine Caspar, Wolfgang Ehmke, Günther Engels, Gaby Hatscher, Sabine Heyken, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Brigitte Reiss, Wolfgang Ziegert

Istanbul, den 4. April 2014

2. April: wir fahren in dem von uns gemieteten Kleinbus von Nusaybin aus entlang der syrischen Grenze nach Ceylanpinar, das einige von uns bereits im Vorjahr besucht hatten. Damals wurde der dortige Grenzübergang von Dschihadisten mit Duldung der Türkei genutzt, um sich den Al-Kaida-Verbänden in Syrien anzuschließen. Kontrollposten des Assad-Regimes hatten sich bereits damals zurückgezogen. Nun sollte die Grenze nach uns zugegangen Informationen ganz geschlossen sein. Dies wollten wir überprüfen und uns ein Bild von der Flüchtlingssituation machen. Deswegen wa­ren wir nach unseren Wahlbeobachtungsterminen am 30.3. zunächst nach Nusaybin gefahren, wo wir von dem BDP-Vorsitzende erfuhren – die BDP ist die prokurdische Friedens- und Demokratie-Partei -, dass es in der gesamten Provinz Urfa, zu der auch das von uns angesteuerte Ceylanpinar gehört, zu massiven Wahlfälschungen gekommen sei.

Auf dem Weg nach Ceylanpinar gerieten wir in eine Militärsperre, die uns aber nach kurzer In-Augenscheinnahme passieren ließ. Schon bei der Einfahrt nach Ceylanpinar sahen wir überall ver­kohlte und zum Teil noch qualmende Überreste des Inhalts umgestürzter und angezündeter Müll­tonnen, verbrannter Autoreifen und anderer Gegenstände, die offenbar als Barrikaden gedient hat­ten. Die Luft waberte noch vom stechenden Geruch des Tränengases. Am Ende der Hauptstraße sa­hen wir einen Wasserwerfer, Barrikadenräumfahrzeuge und eine Polizeikette mit Helmen und Schil­den die Fahrbahn versperren. Ihnen gegenüber stand eine Menschenmenge von 500 oder mehr Per­sonen, die uns stürmisch begrüßte und sofort eine Gasse bildete, damit wir zu Fuß nach vorne an die Sperre gelangen konnten, wo der nach 10 Jahren Amtszeit angeblich abgewählte BDP-Bürger­meister zusammen mit seiner Co-Kandidatin stand (die BDP stellte ausschließlich geschlechterquo­tierte Doppelspitzen für die Bürgermeisterwahlen auf) und in eine heftige Diskussion mit dem Ein­satzleiter – Sonnenbrille, Cappy, Kaugummi – verwickelt war. Als Ergebnis dieser Diskussion ver­kündete der Einsatzleiter, dass er der Forderung nach Rückzug der Polizeikräfte zur Ermöglichung eines Sitzstreiks in einem seitwärts gelegenen Park – mit dem Ziel der neu Auszählung der Stimmen – keinesfalls nachgeben, sondern die Straße nach 5 Minuten räumen lassen würde. Zur Überra­schung aller ließ er jedoch die Polizeikräfte nach verstreichen der Frist zurückziehen. Es schien so. als sei die Polizei angesichts unserer ausländischen Präsenz, die auch von mehreren türkischen Pres­severtretern registriert worden war zurückgewichen. Allerdings nur, um nach unserer Abfahrt umso brutaler unter Einsatz von Gasgranaten erneut gegen die Protestierenden vorzugehen. Wie inzwi­schen im kurdischen Fernsehen dokumentiert, kamen auch vollbärtige Al-Nusra-Söldner in Kampf­anzügen von der anderen Seite der Grenze zum Einsatz, während die im gegenüberliegenden syri­schen Teil der Stadt aus Solidarität demonstrierenden Kurden vom türkischen Militär am Grenz­übertritt gehindert wurden.

Am Sonnabend, den 29. März, also 4 Tage zuvor, waren wir, von Diyarbakir kommend, in die nörd­lich gelegene Provinzhauptstadt Bingöl gefahren, um den Wahlverlauf zu beobachten. Da unsere Reisegruppe aus 12 Personen bestand, unterteilten wir uns in drei Gruppen,. Eine fuhr nach Kara­kocan, eine nach Karliova und eine blieb in Bingöl. Sowohl in Karakocan als auch in Bingöl trafen wir eine ganze Reihe Kurden, die wir aus Hamburg kannten und die sehr gut deutsch sprachen, so dass wir über ausreichend Dolmetscher verfügen konnten. Besonders in Karakocan, wo der BDP-Bürgermeisterkandidat ein alter Bekannter von uns aus Altona war, der vor ein paar Jahren wieder in seine Heimatstadt Karakocan hatte zurückkehren können, war der Empfang überaus herzlich und die Stimmung kämpferisch und voller Hoffnung, die Kommunalwahl erstmals für sich entscheiden zu können. In Bingöl war die Situation und auch die Stimmung sehr viel angespannter, was unter­strichen wurde durch ständig umher fahrende Militär- und Polizeifahrzeuge. Ohnehin stachen uns bereits auf der Fahrt von Diyarbakir nach Bingöl wie auch auf der späteren Weiterfahrt rechts und links von der Straße immer wieder Militärstützpunkte mit Panzern hinter Sta­cheldrahtverhauen ins Auge. Auf den Bergkuppen, auf denen sich diese Stützpunkte befanden, war immer wieder in türki­scher Sprache die Inschrift vatan önce (zuerst die Heimat) mit weißen Steinen in den Hang gelegt, so dass wir ständig das Gefühl hatten, durch ein besetztes Land zu fah­ren.

Am Sonntag, den 30.3. besuchten wir im Laufe des Tages Dutzende Wahllokale in den drei genann­ten Städten und umliegenden Dörfern. Dabei war unser Eindruck, dass es insgesamt verhältnismä­ßig korrekt zuging, was den Zugang zu den Wahllokalen anlangt, aber auch hinsichtlich der Ausga­be der Wahlscheine nach vorliegenden Wahllisten. Die WählerInnen konnten ihre Stimmzettel in abge­deckten Wahlkabinen stempeln und sie alsdann in verschlossenen Umschlägen in durchsichtige Wahlurnen stecken. Der Zugang zu den Wahllokalen stellte sich für unsere Beobachtergruppen sehr unterschiedlich dar. Die Wahllokale waren durchgängig in Schulgebäuden untergebracht, wo in ei­nigen die Polizei nur am Eingang des Schulgebäudes so eine Art Pförtnerdienst versah, während sie in anderen direkt vor den Wahllokalen postiert war und uns den Zutritt teilweise verwehrte. Wäh­rend wir in Karliova geradezu zuvorkommend hereingelassen und begrüßt wurden, kam es in Kara­kocan und Bingöl zu Einschüchterungsversuchen vor allem von Zivilpolizisten. Obwohl in einigen Wahllokalen ein für uns nicht ganz durchschaubares Durcheinander herrschte, schien uns die Wahl in dem von uns beobachteten Gebiet trotz mit aufgepflanzten MGs patrouillierender Militärfahrzeu­ge weitgehend repressionsfrei, geheim und im Ablauf transparent zu sein. Beeindruckend war ein für deutsche Verhältnisse kaum vorstellbarer Ansturm mit einer enorm hohen Wahlbeteiligung. Worauf wir allerdings immer wieder von den BDP-VertreterInnen hingewiesen wurden, war der Umstand, dass die Ausgangslage für die Parteien sehr unterschiedlich gewesen war. Zum einen be­finden sich mehrere tausend BDP-FunktionärInnen und -Aktivistinnen, darunter einige Dutzend ge­wählte Parla­mentsabgeordnete und BürgermeisterInnen z.T. seit Jahren im Gefängnis, zum anderen bekam die BDP im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen, der AKP; CHP und MHP, keinerlei Finanz­mittel für den Wahlkampf aus staatlichen Geldern. Dies wurde damit begründet, dass die BDP bei den Wahlen zum Nationalparlament im Gegensatz zu den anderen drei Parteien unter der geltenden 10% Sperr­klausel geblieben und nur durch ihre gut 30 direkt gewählten KandidatInnen in Parlament gekom­men sei.

Nach dem Schließen der Wahllokale um 16.00 Uhr trafen wir gegen 18.00 Uhr in Karakocan wieder zusammen. Nach Auszählung ca. eines Drittels der Stimmen und einem sehr deutlichen Vorsprung der BDP wurden wir in siegessicher Stimmung von den um das BDP-Büro versammelten Menschen und ihrem Spitzenkandidaten Burhan Kocaman verabschiedet und fuhren zurück nach Diyarbakir. Dort sahen wir im Fernsehen, dass es zwischen 20 und 22 Uhr in 16 Städten und Hunderten Wahllokalen mehrfach langwierige, bis zu einer Stunde dauernde Stromausfälle gegeben hatte, also genau in der Zeit, als etwa die Hälfte der Stimmen ausgezählt war und die Ergebnisse sich verfestigt hatten. In etlichen Wahlbezirken drehten sich die Mehrheitsverhältnisse plötzlich um. Während es vorher bei der Aus­zählung zum Teil deutliche Vorsprünge der BDP gegeben hatte, war es nun vielfach umgekehrt, so dass die regierende AKP vorne lag (die chauvinistischen und faschistischen CHP und MHP spielten in den kurdischen Kerngebieten keine Rolle). Dies war in Karakocan zwar nicht der Fall, aber bei­spielsweise in Ceylanpinar, wo die BDP bis 20 Uhr mit einem Stimmenanteil von 60% vorne gele­gen hatte, was auch den Ergebnissen vorangegangener Wahlen entsprach. Nun hatten sich aber im wahrsten Sinne des Wortes im Dunklen zwischen 20 und 22 Uhr die Verhältnisse umgekehrt, was die eingangs beschriebene Wut der Menschen hervorrief, die sich sicher waren, um ihren Sieg be­trogen worden zu sein. Ähnliches war in anderen Städten geschehen, unter anderem in Hasankeyf, wo wir am 3.4. ein ausführliches Gespräch mit dem dortigen BDP-Vorsitzenden führen konnten. In Ankara und anderen Städten im Westen der Türkei waren ebenfalls solche Entwicklungen nach Stromausfällen eingetreten, hier allerdings zu Lasten der CHP, die die dortigen Wahlergebnisse in­zwischen genauso angefochten hat, wie die BDP dies in vielen kurdischen Städten und Regionen getan hat. Die Einsprüche scheinen von den zuständigen Staatsanwaltschaften jedoch überall zu­rückgewiesen zu werden, obwohl inzwischen eine Vielzahl von Beweisen in Form von verbrannten Wahlzetteln, Handyaufnahmen von verschiedenartigen Manipulationen sowie verschwundenen Wahlurnen vorliegen und eingereicht wurden.

Die Bewertung seitens der von uns kontaktierten BDP-VertreterInnen sieht so aus, dass man die Wahlfälschungen mit den Stromausfällen seitens der regierenden AKP lange und professionell „für den Notfall“ vorbereitet hatte und nach einem weitgehend transparenten Wählverlauf und dem Be­ginn der Stimmauszählung erst einmal abwarten wollte, wo es „nötig“ und besonders wichtig war, entsprechend aktiv zu werden. Dies versuchte man nicht in den kurdischen Metropolen und BDP-Hochburgen, wo es völlig unglaubwürdig gewesen wäre, aber um so mehr in abgelegeneren Regio­nen und insbesondere an der syrischen Grenze, wo man offensichtlich verhindern will, dass die kur­dischen Autonomiebewegungen beiderseits der Grenze sich vereinigen könnten, was für die kom­munale Selbstverwaltung in den Grenzprovinzen auf der türkischen Seite von erheblicher Bedeu­tung wäre. Hasankeyf kommt aufgrund des entschlossen Widerstands der BDP gegen das bereits im Bau befindliche zerstörerische Staudammprojekt eine zwar anders gelagerte, aber nicht weniger große Bedeutung zu. Die Wahlfälschungen im türkischen Teil der Türkei dürften mit der Rivalität zwischen der AKP einerseits und der CHP, MHP und der Gülen-Bewegung andererseits zusammen­hängen. Hier hat die AKP versucht, die durch die Korruptionsaffairen zuvor ins Schwanken gerate­ne Position Erdogans durch einen fulminanten Wahlsieg wieder zu festigen.

Ein humanitäres Hilfsprojekt für Rojava

Unsere Reise diente neben der Wahlbeobachtung noch einem weiteren Zweck. Während die gesam­te Gruppe von Jan van Aken, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Der Linken und Sprecher für internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion, gegenüber dem Auswärtigen Amt, und da­mit auch den türkischen Behörden, als Beobachterdelegation angemeldet war, reisten einige Teil­nehmerInnen zusätzlich als Mitglieder des gemeinnützigen Hamburger Vereins „Kurdistanhilfe e.V.“ mit dem Auftrag und der Absicht, ein konkretes Hilfsprojekt in Rojava (Westkurdistan/Syrien) durch eine entsprechende Kontaktaufnahme vor Ort in die Wege zu leiten. Da der Grenzübertritt von der Türkei nach Rojava nicht möglich ist – die Türkei hat entlang der Grenze eine Mauer er­richtet, die mit Nato-Stacheldrahtverhauen und Wachtürmen besetzt und von Minenfeldern umge­ben ist – , hatten wir eine Verabredung mit einer oder mehreren Kontaktpersonen in Nusaybin ver­einbart. Nusaybin ist eine durch die koloniale Grenzziehung der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts von ihrer anderen auf der syrischen Seite gelegenen Hälfte geteilte Stadt. Qamisli, wie sie dort heißt, ist die Hauptstadt Rojavas, und befindet sich im östlichsten der drei kurdischen sich unlängst für autonom erklärt habenden Kantone im Norden Sy­riens gegenüber der Grenze zur Türkei, wobei diese Kantone voneinander durch breite Korridore ge­trennt sind, die weitgehend von den Al-Nusra- Banden kontrolliert werden, z.T. wohl auch noch von den Resten der nicht mehr wirklich existieren­den Freien syrischen Armee, die sich angesichts der Gräueltaten der Islamisten Berichten zufolge teilweise mit den kurdischen Selbstverteidigungs­kräften der YPG verbündet hat.

In Nusaybin, also auf türkischer Seite, gelang uns tatsächlich unter schwierigsten Umständen, die hier nicht näher beschrieben werden können, ein Zusammentreffen mit einem Vertreter des kurdi­schen Roten Halbmonds Heyva Sor aus Qamisli (Rojava). Dieser betonte mehrmals, dass ihre Hil­feleistungen ehrenamtlich ausgeführt werden und sich auf die Versorgung Verletzter und Kranker al­ler Ethnien und Religionen erstrecken. Er überreichte uns die entsprechenden Unterlagen zur Tätig­keit seiner Organisation. Wir konnten ihm eine größere, zuvor in Hamburg im Rahmen der Kurdis­tanhilfe gesammelte Summe Geldes überreichen, deren Übernahme er uns unter abenteuerlichen Umständen mit Stempel, Unterschrift und Gruppenfoto quittierte. Das Geld soll als Anschubfinanzierung für den Wiederaufbau einer von dschihadistischen Selbstmordattentätern zerstörten Am­bulanz in Rojava dienen.

Fazit und politische Forderungen der Delegation an die Bundesrepublik Deutschland:

  • Druck auszuüben auf die AKP-Regierung, Neuwahlen unter Aufsicht der OECD durchzuführen oder zumindest eine Neuauszählung der Stimmen vorzunehmen,
  • Druck auszuüben auf die AKP-Regierung, jegliche Unterstützung für die4 Al-Kaida/Al- Nusra-Banden einzustellen,
  • jegliche Militärlieferungen an die Türkei, Saudi-Arabien und alle die Al-Nusra-Söldner finanzierenden und anderweitig unterstützenden Staaten einzustellen,
  • die UNESCO aufzufordern, die einzigartige antike Stätte Hasankeyf zum Weltkulturerbe zu erklären und das Tigris-Staudamm-Projekt zu stoppen, dem Hasankeyf und 120 Dörfer zum Opfer fallen sollen,
  • das PKK-Verbot aufzuheben und die Friedensinitiative Abdullah Öcalans und der BDP zu unterstützen.