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Delegationsreise zu Newroz nach Nordkurdistan (2013)

Politischer Bericht einer Hamburger Newroz-Delegation

Michael Alberti, Sabine Caspar, Wilhelm Engels, Robert Jarowoy, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Aleksandra Kruk, Magdalene Mintrop, Beate Reiss, Brigitte Reiss, Arnold Schnittger, Andrea Winkler

Hamburg, im März 2013

Die Reiseroute führte in der Zeit vom 19. – 26.3.13 von Diyarbakir über die Städte entlang der syrischen Grenze Ceylanpinar, Kiziltepe, Nusaybin und Cizre nach Sirnak und von dort aus auf dem Rückweg über Eruh nach Batman mit einem Abstecher nach Hasankeyf und wieder zurück nach Diyarbakir.

Anlässlich der von ca. 2 Millionen KurdInnen besuchten Newroz-Veranstaltung in Diyarbakir am 21.3.13 hat Abdullah Öcalan in einer Grußbotschaft zu einem Waffenstillstand aufgerufen und einen möglichen Rückzug der Guerilla-Einheiten aus der Türkei in Aussicht gestellt.

Die Reaktionen darauf fassen wir wie folgt zusammen:

„Der Repräsentant des kurdischen Volkes Serok Apo hat einen Waffenstillstand von seitens der Kurden ausgerufen. Murat Karyilan hat ihn als Vorsitzender des Rates der Kurdischen Gemeinden bestätigt. Wir wissen nicht, ob der türkische Staat irgendwelche Zusagen gemacht hat – gesehen haben wir davon bislang nichts -, aber wir werden uns daran halten und abwarten, ob es zu positiven Entwicklungen kommt. Wir sind zum Frieden bereit, aber wir haben die Waffen nicht niedergelegt, und wir werden nicht zögern, sie wieder aufzunehmen, wenn wir feststellen sollten, dass Erdogan nur irgendwelche Spiele mit uns spielt, wie wir es schon oft erlebt haben. Unser Volk war noch nie so stark organisiert und so selbstbewusst wie jetzt. Ohne einen gleichberechtigten Status für unser Volk und die Freilassung Öcalans und der politischen Gefangenen wird es keinen Frieden geben. Das ist die Botschaft von Millionen Kurdinnen und Kurden, die in diesem Jahr die Newroz-Veranstaltungen besuchten.“

Das ist die Quintessenz dessen, was wir in sehr vielen Gesprächen während unserer Reise in unterschiedlichen Landesteilen von den unterschiedlichsten Menschen immer wieder erfuhren. Gesprochen haben wir mit gewählten Bürgermeistern, FunktionärInnen der auch im türkischen Parlament mit zahlreichen Abgeordneten vertretenen Partei für Demokratie und Frieden BDP sowie einfachen Menschen, denen wir durch Zufall begegneten. Der äußere Eindruck, der sich uns insbesondere in Sirnak und Eruh bot, war trotz der friedlichen Gesamtsituation der eines militärisch besetzten Landes. Panzersperren und Militärkonvois prägten das Bild.

In Bezug auf die Situation der kurdischen Bevölkerung in Syrien erfuhren wir von Flüchtlingen, dass sie ihre ganze Hoffnung in die Selbstorganisation und Verteidigung der Siedlungsgebiete durch die YPG, die Schwesterorganisation der PKK, setzen. Die Kurdinnen und Kurden in Syrien haben jahrzehntelang die aller schärfste Unterdrückung durch das Assad-Regime erlebt, trauen der sog. Freien Syrischen Armee FSK, die sich z. T. aus islamistischen Söldnern zusammensetzt, aber ebenso wenig.

Von Seiten des türkischen Staates erfahren sie keinerlei Unterstützung. Durch die Schließung der Grenze und das Wirtschaftsembargo ist es den kurdischen BDP-Stadtverwaltungen entlang der syrischen Grenze nur sporadisch möglich, Hilfsgüter in geringem Umfang nach Syrien zu schicken. Während mehrere zehntausend arabische Flüchtlinge in der Türkei Aufnahme und Verpflegung in Zeltlagern gefunden haben, bleibt es an den kurdischen Stadtverwaltungen mit ihren sehr geringen Mitteln hängen, die kurdischen Flüchtlinge vorwiegend privat unterzubringen und durch kommunale Suppenküchen zu versorgen. Dies ist überhaupt nur möglich, weil die nach dem 1. Weltkrieg von den Kolonialmächten willkürlich gezogene Grenze mitten durch die kurdischen Siedlungsgebiete geht, so dass fast alle Familien Verwandte auf der jeweils anderen Seite der Grenze haben. Von diesen wissen sie, dass die Lage in Bezug auf Lebensmittel, Treibstoff und medizinische Versorgung im syrischen Landesteil sehr schlecht ist, was auch daran liegt, dass sehr viele Kurden aus den großen Städten wie Damaskus und Aleppo in die kurdischen Siedlungsgebiete geflüchtet sind, so dass sich die Bevölkerung dort verdoppelt hat.

Wie uns sowohl von den kurdischen Flüchtlingen aus Syrien als auch von den Menschen im Grenzgebiet auf türkischer Seite versichert wurde, ist ihr größter Wunsch und ihre Hoffnung die Öffnung und Abschaffung dieser Grenze, damit sie sich gemeinsam selber organisieren und verteidigen können. Wie dies funktionieren könnte, zeigt sich nach übereinstimmenden Angaben z.Z. in Syrien und – von uns nachvollziehbar – in der Türkei, wo die Kommunalverwaltung trotz Reduzierung der staatlichen Haushaltsmittel auf die Hälfte der sonst üblichen Zuwendungen binnen weniger Jahre Enormes geleistet hat, was die Verbesserung der öffentlichen Daseinsfürsorge anlangt. Straßen wurden gepflastert, Grünzüge mit Kinderspielplätzen angelegt sowie soziale Einrichtungen geschaffen.

In Hasankeyf, einer Jahrtausende alten noch weitgehend unerforschten Wiege der menschlichen Zivilisation, in der seit über 10.000 Jahren eine Vielzahl von Völkern und Kulturen ihre Spuren hinterlassen haben, begegneten wir einer ziemlichen Ratlosigkeit. Nachdem auf nationaler und internationaler Ebene alles Erdenkliche getan wurde, um das gigantische Staudammprojekt zu stoppen, und man voller Freude und Hoffnung war, als Deutschland, Österreich und die Schweiz ausgestiegen waren, erfuhr man, dass die Türkei das Projekt nun aus eigener Kraft mit eigenen Mitteln vorantreiben wolle. Statt eines Baustopps wurden die Baumaßnahmen zur Errichtung einer 130 m hohen Staumauer fortgesetzt, die den Tigris in einer entsprechenden Höhe in einer Länge von 160 km aufstauen soll. 75 Dörfer werden neben den unschätzbaren archäologischen Zeitzeugnissen unwiederbringlich versinken, wenn nicht noch ein Umschwung geschieht. „Jetzt gibt es ja Gespräche zwischen dem Staat und der PKK. Vielleicht stoppt die PKK ja den Staat…“ äußert ein Händler mit verschmitztem Lächeln.

Vor diesem Hintergrund lauten unsere Forderungen an die deutsche Regierung:
Unterstützung des Friedensprozesses durch Einstellung der Waffenlieferungen und Ausübung politischen Drucks auf die Türkei, Aufhebung des PKK-Verbots und Einstellung aller Verfahren nach §129b (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung) gegen Kurdinnen und Kurden, Anerkennung und Durchsetzung eines umfassenden Status des kurdischen Volkes, Freilassung Abdullah Öcalans und aller politischen Gefangenen in der Türkei.

Delegationsreise zu Newroz nach Nordkurdistan (2012)

Eine Reise nach Kurdistan im März 2012

von Robert Jarowoy, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Beate Reiß, Brigitte Reiß, Hamide Scheer, Frank Schütz

Newroz, das heißt auf kurdisch Neuer Tag, symbolisiert die Sehnsucht des kurdischen Volkes nach Einheit, Frieden und Freiheit. Etwas, was diesem 40-Millionen-Volk noch nie in seiner dreitausend jährigen Geschichte vergönnt war. Allenfalls damals ganz am Anfang der kurdisch-medischen Geschichte, als der Schmied Kawa 625 v. u. Z. in einem symbolischen Widerstandsakt mit seinem Hammer den tyrannischen Assyrer-König Derhak erschlug und damit die Befreiung der indoeuropäischen Völker des Mittleren Ostens (Kurden, Perser und Afghanen) einleitete. Diese Legende findet sich historisch wieder in der Schleifung von Ninive (bei Mossul im Nord-Irak oder vielmehr in Süd-Kurdistan) und damit dem Ende der assyrischen Sklavenhalter-Herrschaft über Mesopotamien.

Nun sind wir seit 1992 jährlich mindestens einmal in die kurdischen Gebiete der Türkei gefahren im Rahmen von Menschenrechtsdelegationen, die den deutschen und türkischen Regierungsstellen und ihren Vertretungen vor Ort von verschiedenen Gewerkschaften, Parteien und humanitären Organisationen angemeldet worden waren. Wir, das sind inzwischen ungefähr 200 vorwiegend aus Hamburg stammende Menschen unterschiedlichsten Alters, Berufs und weltanschaulicher Ausrichtung.
März 2012. Wir sind diesmal 12 Leute, die meisten in Der Linken organisiert. Unter uns die kurdisch stämmige, aber am Osdorfer Born geborene Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir. Unsere Reise wurde den Behörden kundgetan von der Linksfraktion der Hamburgischen Bürgerschaft und dem Hamburger Bundestagsabgeordneten und außenpolitischen Sprecher Der Linken, Jan van Aken, der 2010 schon einmal mit uns in dieser Region unterwegs war.

Wir kommen am 16.3. in Diyarbakir, der Millionenmetropole und heimlichen Hauptstadt eines bislang noch nie existierenden Kurdistan an. Wir erfahren, dass die Newroz-Veranstaltung in Diyarbakir, die eigentlich am Sonntag, den 18.3., stattfinden soll, verboten wurde. Die Veranstaltung wurde von der BDP (Friedens- und Demokratiepartei) angemeldet, die in Diyarbakir mit 68% der Stimmen den gewählten Bürgermeister stellt. Verboten wurde die Veranstaltung von dem vom Innenministerium eingesetzten Gouverneur (Vali) mit der Begründung, der Newroz-Tag, den der türkische Staat beharrlich in türkischer Schreibweise Nevruz nennt, sei am Mittwoch, den 21. März, weswegen nur an diesem Tag gefeiert werden dürfe, obwohl der Tag nicht etwa als Feiertag freigegeben, sondern als normaler Arbeitstag angesetzt ist, an dem SchülerInnen, LehrerInnen, BeamtInnen und Angestellte des öffentlichen Dienstes sogar einem Verbot auf Krankschreibungen unterliegen.


An die allgemeine Presse und Öffentlichkeit

Diyarbakir (kurdisch Amed) 18.03.2012, Ortszeit 10:30 Uhr

Beobachterdelegation der Linksfraktion im Bundestag im Auftrag Dr. Jan van Aken (MdB und außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion)

Wir sind eine Delegation aus Hamburg und Umgebung. Wir sind nach Diyarbakir gekommen, um gemeinsam mit dem kurdischen Volk das Newroz-Fest zu feiern.

Das bereits genehmigte Fest wurde kurzfristig von dem örtlichen Gouverneur verboten.

Trotz aller militärischen und polizeilichen kriegsähnlichen Angriffe ist die ganze Bevölkerung Diyarbakirs auf den Beinen, um ihr Newroz-Fest zu feiern.

Wir verurteilen das militante Vorgehen des türkischen Staates und seiner Organe gegen die örtliche Bevölkerung einschließlich der örtlichen Mandatsträger wie Bürgermeistern, Parlamentsabgeordneten und Parteivorstand der BDP.

Das Volk traf sich vor dem örtlichen Parteibüro. Wir haben erlebt, wie in diese friedliche und feierliche Stimmung vor dem BDP-Parteigebäude Wasserwerfer und CS-Gas eingesetzt wurde. Es gab viele Verletzte.

Bereits am frühen Morgen waren alle Zugänge zum Festplatz von Polizei und Militär abgesperrt worden. Alle Menschen, die an den Sperren vorbei wollten, wurden mittels CS-Gas Einsatzes und deutscher Militärtechnik (gepanzerte Mercedes-Geländewagen) aufgehalten. CS-Gas ist seit Jahren in Deutschland verboten. Das Militär scheute sich auch nicht, mit Schlagstöcken gegen friedliche Menschen vorzugehen.

Wir haben mitangesehen, dass, sobald mehr als 5-10 Personen beieinander stehen, diese direkt von der Polizei mit verschieden Mitteln (Schlagstöcken, Gasgranaten, Wasserwerfern, etc.) angegriffen werden.

Im Umkreis des zentralen Festplatzes werden alle Versuche der Bevölkerung, auf den Platz zu kommen, um gemeinsam zu feiern, auf schärfste und brutalste zum scheitern gebracht.

Im großen und ganzen können wir bis jetzt als Fazit festhalten, dass wir durch unsere persönlichen Erlebnisse und Eindrücke, dass der Wunsch der Menschen, ein friedliches Fest feiern zu wollen, mit kriegsähnlichem Zustand und Aktionen beantwortet werden. Dies wird vor allem durch den Einsatz von Panzern und scharfen Waffen nochmals bestätigt.

Wir verurteilen aufs Schärfste die Vorgehensweise des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung.

Hintergrund dieser nicht nur in Diyarbakir, sondern in der ganzen Türkei gültigen Maßnahme ist ganz offensichtlich der Versuch, die massenhafte Beteiligung der Kurdinnen und Kurden zu behindern, die veranstaltende BDP vor kaum lösbare technische und organisatorische Probleme zu stellen und das kurdische Volk zu demütigen, indem der türkische Staat ihm vorschreibt oder vielmehr vorzuschreiben versucht, wann es seinen größten Feiertag zu begehen habe.

Was die technischen und organisatorischen Probleme anlangt, so sei darauf verwiesen, dass die Anzahl von verfügbaren Bühnen und Lautsprecheranlagen für Veranstaltungen mit bis zu einer Million TeilnehmerInnen natürlich begrenzt ist, gleichermaßen die prominenten Volks-SängerInnen und RednerInnen, zumal fast 8000 FunktionsträgerInnen der BDP seit eineinhalb Jahren durch Inhaftierung aus dem Verkehr gezogen wurden.

Das kurdische Volk hat seit seiner Blütezeit nach der medischen Erhebung bis zum Einmarsch der Griechen unter Alexander dem Großen, dann der Römer und Byzantiner nur Unterdrückung erlebt, die sich fortsetzte in der seldschukisch-osmanischen Herrschaft, die im 17. Jahrhundert die bis heute andauernde Teilung Kurdistans zwischen dem Iran und der Türkei bewirkte.

In Diyarbakir versuchten wir, zunächst vergebens, den Festplatz zu erreichen und wurden dabei vor der Parteizentrale der BDP unter Einsatz von tränengasgeladenen Wasserwerferstrahlen regelrecht weggepustet. Dennoch gelang es uns, wie ungefähr einer Million anderer Menschen, den Festplatz zu erreichen, und an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Letztlich unbehelligt von der anfangs extrem aggressiven Polizei, die regelrecht weggedrückt bzw. beiseite geschoben worden war von den überall herbei strömenden Massen.

Am nächsten Tag sind wir in einem von uns gecharterten Kleinbus (Dolmus) über Mardin, entlang der syrischen Grenze, nach Cizre und weiter nach Sirnak gefahren. Dort haben wir mit dem stellvertretenden BDP-Vorsitzenden gesprochen (der Vorsitzende und der Bürgermeister befinden sich im Gefängnis). Als wir sagten, dass einige von uns 1992 erstmals in Sirnak gewesen waren, erzählte er uns von damals. Von dem Angriff der türkischen Armee an Newroz 92, bei dem er ein Bein verlor. Nachdem wir im Mai die zerschossene Stadt besucht hatten, hat die türkische Armee im August 92 eine erneute Zerstörung Sirnaks vorgenommen, in deren Folge 10.000 BewohnerInnen der kaum 80.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt über die Grenze nach Irak flüchteten, wo sie heute noch in dem Flüchtlingscamp Maxmur leben, das wir im vorigen Jahr besucht haben. Der stellvertretende Vorsitzende sagte, er sei damals der einzige von seiner Familie gewesen, der da geblieben sei, in der Türkei, weil er den Widerstand fortführen wollte und dies bis heute nicht ganz erfolglos getan hat, denn Sirnak ist weiterhin eine der Hochburgen des kurdischen Widerstandes.

Am nächsten Tag sind wir in das Dorf Roboski gefahren, in dem zwei Mitglieder unserer Delegation, u.a. die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir, bereits im Januar im Rahmen einer ParlamentarierInnendelegation gewesen waren, nachdem dort 34 junge Männer durch Bomben türkischer NATO-Kampfjets getötet worden waren.

Was war geschehen? Die jungen Männer (zwischen 14 und 24 Jahren alt) waren wie gewohnt als Grenzgänger mit ihren Maultieren über die mitten in den Bergen gelegene fiktive Grenze gezogen, um Zigaretten und Treibstoff zollfrei im Irak zu besorgen und auf der anderen Seite in der Türkei zu verkaufen. Die einzige Möglichkeit, sich in dieser Region, in der die türkische Armee durch die Verminung der Almen die Landwirtschaft unmöglich gemacht hat, sich einen wenn auch geringen Lebensunterhalt zu verdienen. Die unmittelbar neben dem Dorf gelegene türkische Garnison wusste, um was es ging. Ebenso der türkische Ministerpräsident Erdogan und die Generalität. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen bombardierten zwei NATO-Kampfjets zweimal hintereinander die beiden Schmuggler-Gruppen und töteten 34 von ihnen. Lediglich zwei überlebten mit schwersten entstellenden Verbrennungen.

Wir kommen in das Dorf. Die Mütter, Schwestern, Verlobten und Großmütter kommen in schwarzen Trauerkleidern mit den Fotos in kostbare Rahmen gefasst, von den Ermordeten auf uns zu und gruppieren sich in einem weiten Kreis um uns. Die anfänglich sehr dominanten Männer, die voller Wut und Empörung ihren Zorn herausgeschrieen haben, verstummen und überlassen den Frauen das Wort. Alle, obwohl z.T. sehr schüchtern und ängstlich, wollen uns ihre Verzweiflung, ihr Entsetzen, ihr Unverständnis, ihre Trauer mitteilen. Warum? Was haben die Jungs denn irgendwem getan? Und Erdogans Frau war nach dem Massaker bei uns, wir haben für sie gekocht, sie hat uns ihr Beileid ausgesprochen, weil alles nur ein Versehen gewesen sei, ist dann aber nie wieder aufgetaucht. Wir sagen, dass sie genauso schuldig ist wie ihr Mann, der Ministerpräsident. Sie töten unsere Kinder, nur, weil wir Kurden sind, und sie werden dabei von Europa unterstützt. Wir wissen, dass ihr daran nichts ändern könnt, aber Europa trägt die Schuld daran, dass unsere Kinder umgebracht werden. Aus meiner Familie wurden bisher 12 Menschen an dieser Grenze umgebracht. Ich habe meinen Enkel großgezogen, und er hat gesagt, Oma, ab jetzt sorge ich für dich. Jetzt ist er tot. Wer wird sich denn nun um mich sorgen?

Anschließend fahren wir nach Batman, der erdölreichsten Stadt im kurdischen Gebiet der Türkei. Hier waren wir schon 1992. Damals hatten wir u.a. ein Gespräch mit Siddik Tan geführt, dem Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, der gerade einen Bomben-Anschlag auf sein Auto überlebt hatte. Zwei Wochen nach unserem Besuch wurde er genau wie unser Dolmetscher Ahmet, ein gerade aus Deutschland zurückgekehrter ehemaliger ‚Gastarbeiter‘, vor seinem Haus von ‚unbekannten Tätern‘ erschossen.

Nun sind wir wieder in Batman, einer Stadt mit inzwischen ca. 650.000 EinwohnerInnen. Die Stadt hat sich zum einen durch die vertriebenen Menschen aus den von der türkischen Armee Ende der 90er Jahre zerstörten 4000 kurdischen Dörfern so erweitert, zum anderen hat sie wegen der Erdöl-Förderindustrie Arbeiter und auch Geld angezogen. Kein Vergleich zu damals.

Wir werden im Gästehaus der Stadtverwaltung untergebracht. Die BDP hat hier in Batman mehr als 70% der Stimmen bei allen Wahlen bekommen. Dennoch befindet sich der Bürgermeister wie in den meisten kurdischen Städten im Gefängnis. Wir werden sehr herzlich begrüßt, obwohl uns nicht unbemerkt bleibt, dass die Verantwortlichen unter einem enormen Druck stehen. Man hat zwar gesagt, dass die BewohnerInnen von Batman es denen von Diyarbakir gleichtun würden, weiß aber auch, dass der türkische Staat sich nicht noch einmal so eine Blamage erlauben würde und in dem nur halb so großen Batman im Vergleich zu Diyarbakir ein Exempel seiner Macht zu positionieren wollen würde. Dass dies dann auch in einem mörderischen Polizeieinsatz geschehen ist, haben wir dokumentiert und verweisen auf den link.*Reizgasgranaten von der türkischen Polizei aus nächster Nähe in einen vollbesetzten Parteibus der BDP geschossen*

InsassInnen nach dem Verlassen des Busses schwer misshandelt, darunter
der türkische Parlamentsangehörige Ahmet Türk, die Hamburger
Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir sowie die ehemalige
Europaparlamentsabgeordnete Felecnaz Uca.

Die BDP (Partei für Frieden und Demokratie), die in den meisten kurdischen Städten die BürgermeisterInnen stellt, hatte zum traditionellen kurdischen Neujahrsfest Newroz in allen kurdischen Städten, aber auch in den türkischen Metropolen mit einem großen
kurdischen Bevölkerungsanteil wie Istanbul oder Adana, Großveranstaltungen unter freiem Himmel angemeldet, die aus technischen und organisatorischen Gründen an drei Tagen, dem 18., dem 20. und dem 21.03. stattfinden sollten und entsprechend langfristig vorbereitet worden waren.

Wenige Tage vor den Feierlichkeiten untersagten die vom Innenministerium eingesetzten Gouverneure alle Feiern, die nicht für den 21.03. vorgesehen waren.

Am Sonntag, den 18.03., setzte die Bevölkerung, insbesondere in Diyarbakir, unter Beteiligung von einer Millionen Menschen trotz des Verbots und massiver Behinderungsversuche seitens der Polizei die Feierlichkeit durch, weil das kurdische Volk sich nicht vorschreiben lassen will, wann und zu welchen Bedingungen es seinen größten Feiertag zu begehen hat. Ähnliches sollte am heutigen 20.3. für die genauso langfristig angesetzte Newrozfeier in Batman erfolgen. Doch die offenbar auf Rache eingestellte Polizei ging mit enormen Kräften und äußerster Härte mit gepanzerten Fahrzeugen (Wasserwerfern, Räumfahrzeugen und Schützenpanzern) gegen die sich vielerorts sammelnden Menschenmengen vor. Trotz aller Verhinderungsversuche gelang es dem nach oben offenen, mit einer Plattform versehenen Mobilisierungsbus der BDP, den Festplatz zusammen mit einigen Tausend Menschen zu erreichen. Nach einigen Redebeiträgen begannen die zum Teil festlich gekleideten Menschen zu kurdischer Musik zu tanzen und zu singen.

Im Bus befanden sich neben Ahmet Türk und führenden Mitgliedern der örtlichen BDP auch die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir und eine vom Hamburger Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Jan van Aken als Beobachtergruppe beauftragte Hamburger Delegation.

Als der Bus wegen des immer massiver werdenden Beschusses der Menge mit
Tränengas- und Reizgasgranaten die Veranstaltung abbrach und wegfahren wollte, wurde er von herannahenden Panzerfahrzeugen aus nächster Nähe von beiden Seiten unter Beschuss genommen. Nachdem die Fensterscheiben anfangs noch weitgehend standhielten, durchschlug eine Granate die Scheibe und detonierte mitten im Bus. In Panik versuchten die InsassInnen aus dem auf diese Weise gestoppten Bus heraus zu kommen und wurden unter Erbrechen und halb blind von den herbeieilenden Polizisten zusammen geschlagen und teilweise festgenommen. Während sich die 12köpfige deutsche Gruppe, mit Ausnahme der beschimpften und getretenen Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Canzu Özdemir, nach Verlassen des Busses zwar würgend und mit tränenden Augen relativ ungeschoren zurückziehen konnte, wurden die KurdInnen – unter ihnen Ahmet Türk – schwer misshandelt und abgeführt.

Wir sehen diesen Angriff als einen neuerlichen Versuch des türkischen Staates an, unter Inkaufnahme von Toten, darunter ausländischen und eigenen oppositionellen parlamentarischen VertreterInnen, seine Unterdrückungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk mit barbarischen Methoden ungebrochen fortzusetzen.

Dennoch und trotz allem, ein 40-Millionen-Volk wie das kurdische, wird sich nicht auf ewig unter dem Deckel halten lassen. Dass dieses Volk sich unter seiner auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer seit 12 Jahren unter Isolationshaft gehaltenen Führung in Person Abdullah Öcalans in absehbarer Zeit befreien wird, erscheint den meisten von uns nicht unwahrscheinlich.

Unsere Solidarität gilt dem ganzen kurdischen Volk in seinem Kampf für ein solidarisches, gemeinsames und gleichberechtigtes Leben.

Solidaritätsreise nach Nord-Kurdistan zu den Trauerfeierlichkeiten für 35 durch einen Angriff türkischer Kampfjets getöteter Zivilisten (2011)

Solidaritätsreise nach Nord-Kurdistan zu den Trauerfeierlichkeiten für 35 durch einen Angriff türkischer Kampfjets getöteter Zivilisten (2011).

Trauerfeier in einem besetzten Land

von Robert Jarowoy, Diyarbakir, den 3.1.2012

Nicht, um Silvester zu feiern, bin ich am 31.12.11 nach Diyarbakir geflogen, sondern, um zusammen mit drei kurdischstämmigen Landtags- bzw. Bürgerschaftsabgeordneten in ein Dorf an der irakischen Grenze der Türkei zu reisen. Genauer gesagt, nach Robotski bei Uludere in der Provinz Sirnak, wo zwei Tage zuvor 35 Zivilisten durch einen Angriff türkischer Kampfjets um’s Leben gekommen waren. Angeblich aus Versehen. In der deutschen Presse wurde der türkische Ministerpräsident Erdogan zitiert, der gesagt hatte, es sei unmöglich gewesen, genau zu klären, ob es sich bei den Grenzgängern um Schmuggler oder PKK-Guerillas gehandelt habe. Deshalb sei es zu dem in seinem Ausgang bedauerlichen Vorfall gekommen.

Wir verbringen die Silvester-Nacht in einem mitten in Diyarbakir gelegenen Hotel. Trotz der zentralen Lage ist auf den Straßen kaum ein Auto zu sehen. Die BDP (Friedens- und Demokratiepartei), die in den meisten kurdischen Städten die BürgermeisterInnen und somit die Kommunalverwaltung stellt und im türkischen Parlament 36 Abgeordnete hat, von denen allerdings sechs im Gefängnis sitzen, hat zu einer dreitägigen landesweiten Trauer aufgerufen. Keine Silvesterrakete erleuchtet den Himmel über Diyarbakir, kein Hupkonzert in der sonst so wenig geräuscharmen kurdischen Millionen-Metropole. Im Fernsehen in der Hotel-Lounge werden Silvester-Feiern aus Istanbul gezeigt. Es geht zu wie in einer Show von RTL. Um 0 Uhr wird ein gewaltiges Feuerwerk über dem Goldenen Horn gezeigt, danach Bilder vom Brandenburger Tor. Ein unglaublicher Kontrast zwischen dieser fast völlig verstummten Stadt und dem ausgelassen-rauschhaften Treiben der Menschen in Istanbul und Berlin.

Der Kellner schaltet den Fernseher um auf das in der Türkei eigentlich verbotene, von Brüssel bzw. Kopenhagen ausgestrahlte kurdische Roj-TV. Es werden Bilder von einer brutal aufgelösten spontanen Demonstration vom Vormittag aus Diyarbakir gezeigt. Anlass war der Tod zweier junger Männer, die angeblich PKK-Kämpfer gewesen sein sollen. Sie sind in der Nacht durch zivile Sicherheitskräfte per Kopfschuss regelrecht hingerichtet worden. Mitten in Diyarbakir.

300 km östlich fahren wir in einem PKW von der Provinzhauptstadt Sirnak in Richtung des Dorfes, in dem der Angriff der Kampfjets erfolgt ist. Aufgrund des zuvor den Behörden angekündigten Besuchs einer Parlamentarier-Delegation aus Deutschland werden wir an mehreren Militärsperren nach kurzer Inaugenscheinnahme unserer Pässe bzw. Abgeordnetenausweise durchgewunken.

Das hört sich für mich beim Nachlesen so an, als spräche ich von einer Verkehrskontrolle in Hamburg. Deshalb ein paar erklärende Worte hierzu. Eine Militärsperre in den kurdischen Gebieten der Türkei ist eine dauerhafte Einrichtung an einer wichtigen Straße. Am Straßenrand Wachttürme mit aufgestapelten Sandsäcken. Aus den Schießscharten sind Gewehrläufe auf die Straße und das Umfeld gerichtet. Das oberhalb davon gelegene Areal ist mit Rollen von NATO-Stacheldraht und Mauern umgeben. Überall sind Scheinwerfermasten errichtet. Oben auf dem Hügel befindet sich die Kommandantur. Auf der Straße im Hintergrund zwei Schützenpanzer, davor Halt-Schilder (‚Dur!‘) und bewegliche Sperrgitter mit Stacheldraht umwickelt. Dazwischen junge Soldaten mit Maschinenpistolen. Nicht anders als einst an der innerdeutschen Grenze, von deren Unmenschlichkeit den Schulkindern ja heute noch gerne berichtet wird. Auf der Straße zwischen Sirnak und Uludere/Robotski alle 20 Kilometer eine solche Grenze mit Todesstreifen im eigenen Land. Oder ist es gar nicht das eigene, sondern ein besetztes fremdes Land?

Wir treffen in Robotski ein. Das große, weit auseinander liegende Dorf wird von allen Seiten von hohen, zum Teil schneebedeckten Berggipfeln umgeben. Vor einem riesigen Zelt, das mich von der Form her an ein winterliches Tenniszelt in Deutschland erinnert, stehen viele Menschen zwischen geparkten Pick-ups, PKWs und Kleinbussen. Wir werden erwartet, da wir in Begleitung von Anwälten aus Sirnak gekommen sind, die die näheren Umstände des Kampfjet-Einsatzes untersuchen. Man geleitet uns in das Zelt. An der Stirnseite sitzen in einer Reihe sehr viele alte Männer auf Plastikstühlen. Ihnen gegenüber, ebenfalls auf solchen Stühlen, sitzen gestaffelt in langen Reihen dicht an dicht sehr viele weitere Männer, deren Augen stumm auf uns gerichtet sind.

Wir gehen die Formation an der Stirnseite des Zeltes ab, während durch einen Lautsprecher gesagt wird, dass wir eine Parlamentarier-Delegation aus Deutschland seien. Die alten Männer erheben sich der Reihe nach und schütteln jedem von uns die Hand. Es sind die 35 Familienvorstände der Getöteten. Sie sitzen nun schon den fünften Tag hier und nehmen die Kondolenzbesuche von täglich zwischen 300 und 500 Besuchern entgegen. In stummer, aber gefasster Trauer. Wir setzen uns eine Weile ihnen gegenüber zu den anderen Trauergästen und trinken Tee. Ein paar Fotos werden gemacht. Ein paar Dutzend weitere Hände geschüttelt.

Dann verlassen wir das Zelt und werden in ein daneben liegendes Gebäude geführt. Vermutlich das Dorf-Gemeinschaftshaus, wo es Toiletten, eine Küche und einen kahlen Versammlungsraum mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen gibt. Wir nehmen hinter dem Schreibtisch Platz. Uns gegenüber stehen eine Reihe Männer, für die nach und nach hinzutretenden Frauen werden Stühle durchgereicht.Es beginnen die Schwester und die Verlobte eines der Getöten zu berichten. Es folgen weitere Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen. Sie alle tragen Fotos ihrer getöteten Angehörigen in ihren Händen. Alle Getöteten waren junge Männer zwischen 16 und 23 Jahren. Die Frauen haben immer wieder mit den Tränen zu kämpfen. Ich verstehe sprachlich nur wenig. Sie reden Kurdisch, und es ist unmöglich, ihre von Trauer und Zorn erfüllten Anklagen gegen den Staat, den Mörder Erdogan und seine ausländischen Helfer durch Übersetzungen zu unterbrechen. Mir werden von meinen Mitreisenden nur ein paar grob erläuternde Worte ins Ohr geraunt, aber das reicht, um zu verstehen. Später erfahre ich, dass sie zusätzlich empört waren über die knapp 10.000 €, die die Regierung ihnen allen zusammen als Entschädigung angeboten hat. Sie betonen immer wieder, dass sie kein Geld wollten, sondern ein Ende des Krieges gegen ihr Volk. Am Tag zuvor war der Provinzgouverneur als Überbringer des Entschädigungs-Angebotes mitsamt seiner Bodyguard von den aufgebrachten Dorfbewohnern unter Hochrufen auf den seit 12 Jahren inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan (‚Biji serok Apo!‘) vertrieben worden, was übrigens auf allen Nachrichten-Kanälen wie CNN oder NTV landesweit übertragen wurde.

Wir begeben uns zusammen mit Dutzenden Frauen zu den mit Papierblumen geschmückten frischen Gräbern auf dem oberhalb des Dorfes gelegenen Friedhof. Unterwegs erfahre ich. Die jungen Männer waren wie gewohnt unter den Augen des nahegelegenen Militärstützpunktes in zwei Gruppen über die irgendwo fiktiv im Berg liegende Grenze in ein auf der anderen Seite im Irak liegendes Dorf gegangen, um günstigen Diesel-Treibstoff für ihre Traktoren und zollfreie Zigaretten zum Weiterverkauf zu besorgen. Andere Erwerbsmöglichkeiten gibt es in dieser Gegend zumal im Winter nicht. Von der ersten Gruppe wurden alle getötet. Als die Dorfältesten daraufhin bei der Kommandantur anriefen und sagten, dass es sich um ihre Leute und keine Guerillas handele, wurde ihnen geantwortet, das wisse man, man wolle ihnen – in freier Übersetzung – nur ein bisschen Feuer unter dem Arsch machen. Von der zweiten Gruppe überlebten drei junge Männer und ein Pferd mit schwersten Verletzungen.

Die Haltung des türkischen Staates zu diesem Vorfall wurde bei der Parlamentsdebatte dazu am klarsten von dem Fraktionsvorsitzenden der faschistischen MHP zum Ausdruck gebracht, als er sagte, dass jegliche Militäreinsätze gerechtfertigt seien, wenn auch nur 1 % Möglichkeit bestünde, dass man damit die PKK träfe, egal, ob es sich dabei um Zivilisten oder Guerillakämpfer handele. So offen wird es von Erdogan und seiner alleinregierenden AKP-Partei zwar nicht formuliert, aber die Praxis seiner Politik sieht nicht anders aus.

Delegationsreise zu Newroz nach Nordkurdistan (2010)

Für Frieden und Kurdistan

Eine 17-köpfige Delegation aus Hamburg und Schleswig-Holstein hat im Jahr 2010 die Newroz-Feierlichkeiten in Kurdistan besucht, darunter die Abgeordneten der Linken, Jan van Aken (Bundestag), Norbert Hackbusch (Hamburgische Bürgerschaft), Björn Thoroe (Landtag Schleswig-Holstein) und Robert Jarowoy (Bezirksversammlung Altona).

Die diesjährigen Newroz-Feiern in der Türkei waren eine beeindruckende Abstimmung mit den Füßen für Frieden und Freiheit in Kurdistan. Mehr als doppelt so viel Menschen wie je zuvor haben an den Feiern rund um den 21. März 2010 teilgenommen. Allein in der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, Diyarbakir, waren bis zu 1 Million Menschen auf den Beinen. Die jährlichen Newroz-Feiern sind das zentrale Moment für die kurdische Bevölkerung, ihre Kultur und ihren Kampf um Selbstbestimmung zu feiern.

In diesem Jahr konnten zum ersten Mal Newroz-Feiern in allen Städten ohne nennenswerte Behinderungen durch Militär und Polizei durchgeführt werden. Selbst viele staatstragende Medien berichteten erstmalig über die Newroz Feiern, die noch vor wenigen Jahren massiv behindert und bekämpft worden waren. Wir haben an den Newroz-Feiern in Batman (ca. 500.000 TeilnehmerInnen), Sirnak (20.000) und Cizre (100.000) teilgenommen, die allesamt friedlich und ausgelassen begangen wurden. Zwar gab es mehrere Polizeisperren mit ausgiebigen Kontrollen sowie schwer bewaffnete Soldaten (zum Teil mit Maschinengewehr im Anschlag) rund um die Feste, die jedoch anscheinend niemanden am Besuch der Festlichkeiten hinderten. –Trotzdem hatten wir auf allen unseren Fahrten angesichts der vielen Panzer, Garnisonen und Straßensperren den Eindruck, in einem besetzten Land zu sein.

Während der türkische Staat offensichtlich die Newroz-Feiern nach vielen Jahren heftigster Repressalien akzeptiert hat, verschärft er parallel den Druck auf die kurdische Bevölkerung und die kurdische Partei BDP. Selbst Kinder unter zehn Jahren werden inhaftiert. Mehr als 2000 gewählte FunktionsträgerInnen der BDP (bzw. der mittlerweile verbotenen Vorgängerpartei DTP) sitzen im Gefängnis, darunter auch 9 gewählte Bürgermeister kurdischer Städte. Der Bürgermeister von Sirnak erzählte uns, dass allein in seiner Provinz 500 FunktionärInnen der BDP im Gefängnis seien. In den letzten 45 Tagen seien 3 kurdische Aktivisten erschossen worden. Wir besuchten die Familie eines 27-jährigen ehemaligen Vorsitzend der Jugendorganisation der BDP (damals DTP) in Senova, der 10 Tage vor unserem Besuch an einem Kontrollpunkt gezielt erschossen worden war. Er war unbewaffnet und in Begleitung von sechs Freunden, die allesamt ohne weitere Anklage oder Vorwürfe unbehelligt blieben.

Sehr oft wurden wir auf den Überfall der belgischen Polizei auf den kurdischen Fernsehsender Roj TV angesprochen, der legal über einen dänischen Satellit europaweit kurdische Nachrichten sendet. Überall konnten wir feststellen, wie wichtig dieser Sender für die kurdische Bevölkerung ist. Dementsprechend wurde der Versuch der belgischen Regierung, diesen Sender auszuschalten, mit großer Sorge und Empörung aufgenommen.

Die ständigen Menschenrechtsverletzungen fanden auch in den Newroz-Kundgebungen ihren Ausdruck. Zentrale Forderungen waren ein Stopp der Verhaftung Minderjähriger und eine Freilassung aller gewählten FunktionsträgerInnen. Zum einseitig erklärten Waffenstillstand der kurdischen bewaffneten Gruppen sagte Osman Baydemir, Bürgermeister von Diyarbakir: „Es ist Sünde, wenn Türken auf Kurden schießen, und wenn Kurden auf Türken schießen.“ Die RednerInnen auf den Kundgebungen forderten ein Ende der ständigen militärische Angriffe auf die kurdischen Kräfte, um endlich dem Frieden in Kurdistan eine Chance zu geben.

Außerdem wurde die Aufhebung der 10%-Hürde gefordert, die in der Türkei für den Einzug in das Nationalparlament gilt. So wie die Massenverhaftungen der Funktionäre der BDP gilt auch die 10%-Hürde als Versuch, die kurdische Partei auf undemokratische Weise aus dem nationalen Parlament herauszuhalten.

Im Frühjahr 2011 sind wieder Wahlen in der Türkei. Es steht zu befürchten, dass die türkische Zentralregierung bis dahin die Verhaftungswelle gegen kurdische PolitikerInnen noch weiter verschärft, um die Organisation des Wahlkampfes und damit einen Wahlerfolg der BDP (die momentan mit 21 Abgeordneten im Parlament sitzt) zu verhindern.

Zum Abschluss der Reise besuchten wir noch Hasankeyf, ein Ort mit mehrtausendjähriger Geschichte und großer kulturhistorischer Bedeutung, der durch den geplanten Ilisu-Staudamm komplett unter Wasser versinken würde. Der Ilisu-Damm ist ein Megaprojekt, das den Tigris auf einer Länge von 130 Kilometern aufstauen würde. Unter dem Motto „Hasankeyf soll leben“ haben wir gemeinsam mit Umweltschützern und Menschenrechtlern aus der Region sowie mit Delegation aus Italien, den Niederlanden und dem Baskenland Bäume am Tigris-Ufer gepflanzt.