Über viele Jahre hat die Kurdistanhilfe auch Solidaritätsreisen nach Kurdistan zum Newrozfest organisiert. Die Reisen wurden immer privat finanziert und nicht aus den Spenden.
Aktuell lässt es die politische Situation in der Türkei nicht zu, dass wir dort mit Aktivist*innen aus Deutschland hinfahren.
Das Newroz-Fest steht für die Hoffnung der Völker von Anatolien und Mesopotamien auf Frieden und Freiheit. Es ist ein Symbol für den Kampf gegen Kriege, Ausbeutung und Völkermord sowie für die Solidarität und die Geschwisterlichkeit der Völker und wird in ganz Kurdistan rund um den 21. März gefeiert.
Um die vielfältigen ethnischen Gruppen und Nationen zu unterstützen und unsere Solidarität zum Ausdruck zu bringen, werden auch regelmäßig in Deutschland große Newroz-Fest organisiert, zu denen wir als Kurdistanhilfe auch aufrufen.
Hier finden Sie die Berichte …
Im Juli reiste eine Delegation mit einer Gynäkologin, einem Notfallmediziner und einem Psychiater nach Südkurdistan (Nordirak) in das Flüchtlingslager in Machmur. Die Delegation wurde unterstützt vom 'Verein Demokratischer Ärztinnen & Ärzte' (VDÄÄ – Regionalgruppe Hamburg) und die Reise erfolgte auf Einladung des Gesundheitszentrums im Flüchtlingscamp Machmur. Ziel der Delegationsreise war es, das Gesundheitszentrum durch Fortbildung und Mitarbeit zu unterstützen und medizinische Materialspenden zu überbringen.
Camp Machmur entstand 1998 als Flüchtlingslager
Das Flüchtlingscamp in Machmur (kurdisch: Mexmûr) wurde 1998 von der UNHCR errichtet – die in den 1990er Jahren geflohenen Kurden und Kurdinnen (circa 12.000) aus Nord-Kurdistan (türkisches Staatsgebiet) sollten in einem Gebiet nahe der Stadt Machmur mitten in der Wüste im Nord-Irak (damals noch unter der Herrschaft von Saddam Hussein) gemeinsam untergebracht werden. Es ist somit eines der ältesten Flüchtlingslager der Region. Die Flucht war eine kollektive, politische Entscheidung als Reaktion auf die Politik des türkischen Staates – eine Politik des Verschwindenlassens, der Folter, der Zwangsrekrutierung für das Dorfschützersystem, der Zerstörung der Dörfer und der gezielten Vertreibung der Bevölkerung aus Nordkurdistan. Diese gemeinsame Geschichte und politische Haltung prägt das Camp bis heute.
Inmitten der Wüste haben die Menschen eine Oase geschaffen
Im Laufe der Jahre haben die Bewohner und Bewohnerinnen aus einem Zeltlager eine Kleinstadt errichtet. Es wurden feste Häuser gebaut, durch Wasserbohrungen konnte ein System mit umfassender Wasserversorgung für das Camp Machmur errichtet werden, mit Generatoren wurde Elektrizität in alle Häuser gebracht. Auch ein Abwassersystem konnte installiert werden, eine Müllabfuhr wurde organisiert. Es wurden Schulen gebaut, ein Gesundheitszentrum, ein Physiotherapiezentrum und mittlerweile auch eine zahnärztliche Praxis errichtet. Beeindruckend ist es auch, wie viele Bäume und andere Pflanzen in diesem Wüstenfleck gepflanzt werden konnten – dabei versorgen sich die Menschen mit Trauben, Feigen, Tomaten und anderen Früchten und Gemüse selbständig, teilweise können diese Produkte auch außerhalb des Lagers verkauft werden.
Eine Insel der Selbstverwaltung zwischen Türkei, Irak und kurdischer Autonomieregion
Nach dem am 25.9.2017 abgehaltenen Referendum, bei dem 92% der Bevölkerung in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) für eine Unabhängigkeit stimmten, übernahm die irakische Armee die Kontrolle von circa 40% des von der ARK kontrolliertem Gebiet, darunter vor allem die aufgrund der Ölförderung strategisch wichtige Stadt Kirkuk, und reduzierte das Gebiet der ARK auf den Gebietsstand von vor 2003. Zu diesem von der irakischen Regierung eingenommenen Gebiet gehörten auch die Stadt und das Camp Machmur, so dass nun die Grenze zwischen dem irakischen Staatsgebiet und der ARK nur wenige Kilometer nördlich des Lagers verläuft.
Der türkische Staat setzt alles daran, das Flüchtlingscamp Machmur als ein „Nest des Terrorismus“ zu brandmarken und (nicht nur) politisch zu bekämpfen. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der in der ARK regierenden KDP wurde 2019 beschlossen, dass zur angeblichen „Bekämpfung des Terrorismus“ keine Personen mehr aus dem Lager in das KDP-kontrollierte Gebiet der ARK einreisen dürfen.
Schwierige Alltagsbedingungen
Diese Isolation ist für Bevölkerung des Camp Machmur sehr einschneidend. Bis 2019 war es ihnen möglich in die nur 67 km entfernte Hauptstadt der ARK, Erbil (kurdisch: Hewler) zu fahren. Die Stadt bot bis dahin die besten Möglichkeiten der (Weiter-) Bildung, medizinischer Einrichtungen und Versorgung mit essentiellen Gütern. Seit 2019 müssen nun alle Erledigungen und sogar notwendige und dringende Krankenhausbehandlungen in mehreren hundert Kilometer entfernten anderen Städten (z.B. Mosul, Sulaymaniyah, Bagdad) erfolgen. Plötzlich durften die Kurden und Kurdinnen aus dem Camp nicht mehr nach Kurdistan reisen!
Das Gesundheitszentrum in Camp Machmur
Gerade aufgrund dieser Entwicklung hat das Gesundheitszentrum im Camp Machmur eine besondere Bedeutung in der Versorgung der Bevölkerung erhalten. Das Gesundheitszentrum ist vergleichbar mit einer allgemeinmedizinischen Poliklinik mit einer ambulanten Versorgung von täglich zwischen 100 und 200 Patienten und Patientinnen. Das Gesundheitszentrum hat eine Apotheke, ein Labor und ein Röntgenraum. Mit Spenden der Kurdistanhilfe e.V. von 2020 konnte ein Ultraschallgerät angeschafft und eine Krankenpflegerin zu einer speziellen Ultraschall-Ausbildung geschult werden. Seitdem sind allgemeinmedizinische und geburtshilfliche Ultraschalluntersuchungen möglich. Für die Versorgung im Zentrum muss jede Person jeweils einen geringen Unkostenbeitrag zahlen – eine allgemeine Krankenversicherung gibt es im Irak nicht.
Das Gesundheitszentrum erfüllt für das Camp Machmur drei wichtige Aufgaben:
- Eine autonome Gesundheitsversorgung für alle Personen im Flüchtlingscamp bedeutet eine Unabhängigkeit von fremden Gesundheitsstrukturen. Für viele medizinische Leistungen müsste die Camp-Bevölkerung sonst in benachbarte Städte reisen – seit dem Einreisestopp an der Grenze zur Autonomen Region Kurdistan (ARK) ist diese Möglichkeit massiv erschwert worden, weswegen eine Gesundheitsversorgung möglichst im Camp erfolgen muss.
- Die gesundheitlichen Leistungen im Gesundheitszentrum sind qualitativ so gut, dass auch die Bevölkerung der benachbarten Stadt Machmur, aber auch aus entfernteren Orten, dieses aufsucht. Somit ist das Gesundheitszentrum ein Aushängeschild des Flüchtlingscamps und wirkt als vertrauensbildende Maßnahme zwischen der irakisch-kurdischen und -arabischen Allgemeinbevölkerung und dem Camp-Bevölkerung. Wenn sogar irakische Soldaten das Gesundheitszentrum zur Behandlung aufsuchen, wird die Terrorismus-Propaganda der Türkei nicht greifen und es entstehen wertvolle Kontakte für die Camp-Bevölkerung.
- Die sozial angemessenen, vergleichsweise niedrigen Preise für Gesundheitsleistungen im Zentrum führen dazu, dass Preise für Gesundheitsleistungen auch in der Umgebung niedrig gehalten werden müssen.
Die Entscheidungen in Bezug auf Leistungsumfang, Budget und Versorgungsstrukturen werden im Camp Machmur durch eine Gesundheitskommission getroffen. Diese wird geleitet durch einen männlichen Mitarbeiter und eine weibliche Mitarbeiterin und tagt regelmäßig.
Angesichts der schwierigen Lage, in der sich die Bevölkerung des Flüchtlingscamp Machmur aufgrund der politischen Isolation befindet, ist die Unterstützung des Gesundheitszentrums eine wichtige humanitäre Aufgabe, der wir uns stellen sollten.
Spenden
für das Gesundheitszentrum im Camp Machmur
an das Konto der Kurdistanhilfe e.V.
IBAN DE40 2005 0550 1049 2227 04 (Haspa)
Stichwort: Machmur
In der zweiten Oktoberwoche, in der der Angriff der Türkei auf Rojava (Nordsyrien) begann, bereiste eine zivilgesellschaftliche Delegation Südkurdistan (Nordirak). Diese Delegation setzte sich zusammen aus Pädagog*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Ärzt*innen, IT-Spezialisten, Verwaltungs-Fachleuten und Vertreter*innen verschiedener NGOs sowie des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein und aus Parlamentarier*innen aus dem Bundestag, der Hamburgischen Bürgerschaft, dem Schleswig-Holsteinischen Landtag sowie der Altonaer Bezirksversammlung.
Die Reise erfolgte auf Einladung der Yezidischen Konföderation im Nordirak. Ziel war die Region um den Şingal-Berg (Shengal-Gebiet), wo sich Siedlungsgebiete der ethnisch-religiösen Minderheit der Yezid*innen befinden. Die Delegation wollte dort u. a. Projekte besuchen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten.
Der Islamische Staat (IS) drang bei seiner Offensive 2014 in diese Gebiete vor und verübte mit extremer Grausamkeit einen Genozid an den dort lebenden „ungläubigen“, (nicht-muslimischen) Menschen. Über 5000 Yezid*innen wurden ermordet, 7000 Frauen und Kinder versklavt und systematisch vergewaltigt. 400.000 Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Noch heute gelten 2000 Frauen als verschollen.
Nach langwierigen und schwierigen Diskussionen um Genehmigungen zur Weiterreise erreichte die Delegation das kurdische Flüchtlingslager Machmur (kurdisch Mexmûr) zwischen Mossul und Erbil (kurdisch Hewlar), 250 km östlich der türkischen Grenze. Dieses befestigte Lager, in dem etwa 13.000 Geflüchtete leben, entstand aufgrund der Vertreibung der Menschen aus dem türkischen Teil Nordkurdistans durch die türkische Armee im Jahre 1993.
Trotz aller Widrigkeiten gelang es in den letzten Jahren, in Machmur ein weitgehend funktionierendes Gesundheitssystems aufzubauen. Dessen Weiterbestehen ist nun durch das seit drei Monaten anhaltende Embargo seitens der Barzani-Regierung in Südkurdistan gefährdet. Die Delegation besuchte das Gesundheitszentrum. Überwiegend ehrenamtlich versorgen hier fünf Ärzt*innen, vier Hebammen, zwei Physiotherapeuten, zwei Apothekerinnen und sechs Pflegekräfte das Lager sowie zahlreiche irakische Dörfer in der Umgebung. Es gibt sechs Behandlungsräume, einige wenige Notfallbetten, einen Frühgeborenen-Inkubator, ein einfaches Labor, ein veraltetes Ultraschall-Gerät sowie eine einfache Röntgenanlage. Kompliziertere Operationen oder Kaiserschnitte vorzunehmen ist jedoch nicht möglich.
Seit Kurzem besitzt das Gesundheitszentrum einen nagelneuen Ambulanzwagen, gespendet von italienischen Hilfsorganisationen, mit dem Patienten im Notfall oder zur Dialyse nach Mossul oder Erbil gefahren werden können. Unsere Delegation konnte eine beträchtliche Menge dringend benötigter Antibiotika sowie Geldspenden zur Beschaffung von Betten, Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln übergeben.
Mindestens ebenso eindrucksvoll für uns war der Besuch des Tageszentrums Navenda Hevi (Hoffnung) zur Förderung von Kindern mit Handicap. Hier arbeiten sechs Psycholog*innen und Heil-Therapeut*innen, die vor allem Kinder mit Autismus-Spektrumsstörung oder Down-Syndrom in ihrer Entwicklung fördern. Die Förderung umfasst die feinmotorische Bewegung, musische und lebenspraktische Bereiche sowie Sport.
Es zeugt von ausgeprägtem Humanismus, sich unter äußerst bescheidenen und bedrängten Lebensverhältnissen den Bedürfnissen und der Förderung schwerbehinderter Menschen zu widmen. Für eine noch bessere Gesundheitsversorgung, die unter anderem die Früherkennung von Tumoren ermöglicht, benötigt das Flüchtlingscamp in Machmur jedoch dringend ein neues 3,5- und 10-MHz-Sonographiegerät für etwa 20.000 Euro.
Zu den Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan vom 31. März 2019 reiste eine Delegation aus Hamburg und Celle im Auftrag von Zaklin Nastic, Sprecherin für Menschenrechtspolitik der Linksfraktion im Bundestag, in die nordkurdischen Gebiete, um die Wahlen dort zu beobachten. Insgesamt hielt sich die Delegation vom 29.3. bis zum 1.4. in den Provinzen Amed (Diyarbakir) und Cizîr (Cizre) auf. Sie setzte sich zusammen aus Abgeordneten des Bezirksparlamentes, solidarischen Personen und Friedensaktivist*innen.
„In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen“ – so lautet die Doppelstrategie der HDP für die Kommunalwahlen am 31. März. Die HDP, die Demokratische Partei der Völker, war es auch, die auch in diesem Jahr wieder dazu aufrief, in den kurdischen Gebieten der Türkei die Wahlen zu beobachten. In diesen undemokratischen Zeiten der aggressiven Diktatur der AKP wünschte sich die Partei internationale solidarische Beobachter*innen, um die rechtswidrigen Praktiken von Gewalt, Repression und Betrug zu bezeugen und an die Öffentlichkeit zu bringen. Dem versuchte unsere Delegation bestmöglich zu entsprechen.
Es lässt sich sagen, dass die Strategie der HDP bei diesen Wahlen grundsätzlich Erfolg zeigte. In den westlichen Metropolen gelang es durch die Stimmen potenzieller HDP-Wähler*innen, der CHP zum Wahlsieg zu helfen. Dies fiel einigen Wähler*innen sicherlich nicht einfach, denn als wirkliche Oppositionspartei lässt sich die CHP nicht bezeichnen, zumal sie zuletzt auch der Aufhebung der Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter beistimmte, woraufhin viele in die Gefängnisse wanderten, darunter auch der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Doch selbst dieser rief noch am Tag vor der Wahl dazu auf, im Westen für die Allianz aus CHP und Iyi-Parti zu stimmen, um die Allianz aus nationalistisch-islamistischer AKP und rechtsextremer MHP vom Thron zu stürzen. In Nordkurdistan gelang es der HDP, fast alle Provinzen zurückzugewinnen, die zuletzt unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Doch zehn Tage nach der Wahl beschloss der Hohe Wahlausschuss (YSK), der nur noch als politisches Werkzeug Erdogans fungiert, dass die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt nicht antreten werden dürfen, falls sie zuvor aufgrund der Ausnahmezustandsdekrete vom öffentlichen Dienst entlassen wurden. Die Mandate sollen an die zweitstärkste Kraft (AKP) gehen. Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die völlig widersprüchliche Anwendung von Gesetzen seitens der Machthaber gegenüber Oppositioneller und für eine andere Art der Zwangsverwaltung. Im Westen ist es insbesondere der Verlust von Istanbul, der einen schweren Schlag für Erdogan darstellt. Die Stadt ist nicht nur von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, sie trägt zudem auch symbolisches Gewicht. Der Kampf um die Stadt fängt jedoch gerade erst an, weshalb es hier keine abschließende Aussage geben kann.
Als ein elfköpfiges Team von LinkspolitikerInnen und FilmemacherInnen/FernsehjournalistInnen fliegen wir mit zwei DolmetscherInnen nach Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregierung in Nordirak.
Hier war ich zuletzt vor 7 Jahren. Damals war Erbil (Hewler) eine quirlige Stadt, in der sich ausländische Firmen die Klinke in die Hand zu geben schienen. Überall sah man die Leuchtschilder der Vertretungen vor allem deutscher Firmen wie Siemens, Bosch, Züblin oder Daimler. Ganz anders in diesem Jahr. Ein nahezu verwaister Flughafen, der aus Europa nur noch von Austrian Airlines angeflogen wird, ansonsten von Turkish Airlines, Egypt Airlines, einer pakistanischen und einer inländischen Airline aus Baghdad. Am Flughafen die letzten beiden verbliebenen Autovermietungsfirmen mit einem Gemeinschaftsstand: Hertz und Europcar.
Nun ja, bis vor zwei Jahren war das kurdische Autonomiegebiet in Südkurdistan bzw. Nordirak ein Hort der Stabilität gewesen. Keine Selbstmordanschläge, keine Dschihadisten und auch keine Gefahr einer sozialistischen Revolution, wie wir sie in den kommenden Tagen in Rojava hautnah erleben sollten. Dann aber 2015 der Schock, als die Dschihadisten des Islamischen Staates zunächst Mossul überrannten, Nord-Syrien weitgehend besetzten und zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich kurz vor Erbil standen. Genau wie die irakische Armee hatten die kurdischen Peshmerga der Barsani-Regierung des Autonomiegebietes keinerlei Widerstand geleistet, sondern waren unter Zurücklassung ihrer militärischen Ausrüstung abgehauen. Erst der Widerstand der PKK-Guerilla hatte vor allem in Sincar und bei Maxmur zum Rückzug der Dschihadisten geführt.
Danach hatte sich das geschockte ausländische Kapital zumindest personell zurückgezogen. Von den 500 Luxushotels wurden die Hälfte geschlossen. Auch in unserem 3-Sterne-Hotel waren wir die einzigen Gäste. Wie die Geschäftsleute waren auch die Touristen aus Baghdad und den Emiraten weggeblieben, die – sofern Beirut ihnen zu teuer war – hier ganz entspannt hatten einkaufen und sich amüsieren können. Im Christen-Viertel von Erbil gibt es sogar Whisky-Bars und Kioske mit Efes-Bier.
Nun hatte Barsani als Chef der kurdischen Autonomie-Regierung 2017 im Schatten des fluchtartigen Rückzuges zunächst der irakischen Armee und dann des IS als Reaktion auf den Widerstand der PKK-Guerilla sein ihm völkerrechtlich und in der irakischen Verfassung festgeschriebenes Territorium nahezu verdoppelt, indem er sich insbesondere die erdölreiche Region um Kirkuk still und heimlich einverleibt hatte. In einem Anflug von Größenwahnsinn hat er im Herbst 2017 in diesem Gebiet und seinem bisherigen Territorium ein Referendum durchführen lassen, das über die völlige Loslösung vom Irak entscheiden sollte und in seinem Sinne überwältigend positiv von der kurdischen Bevölkerung entschieden wurde. Die Antwort der nach dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des IS wiedererstarkten irakischen Regierung war eindeutig. Kirkuk und alle anderen dazugewonnen Gebiete wurden im Herbst 2017 binnen zwei Tagen ohne irgendeinen Widerstand von Barsanis Peshmerga-Truppen wieder Baghdad unterstellt – genau wie die beiden Flughäfen des Barsani-Gebiets, die bis März 2018 von der irakischen Regierung für den internationalen Flugverkehr gesperrt worden waren. Nachdem Barsani daraufhin erklärte, dass das Referendum für die Unabhängigkeit gar nicht so gemeint war, durfte er unter Verlust des gesamten zugewonnen Territoriums der Kurdischen Regional-Regierung den Flughafen in seiner Hauptstadt Erbil wiedereröffnen, was aber außer bei den ÖsterreicherInnen zumindest in Europa bislang nicht so vertrauenschaffend wirkte und auch eine zumindest Halbierung der Erdöleinnahmen mit sich gebracht hatte.
Wir fahren von Erbil aus mit zwei Autos zu dem einzigen offiziellen Grenzübergang zwischen der Kurdischen Autonomie Regierung (Barsani) und Rojava am Harbur-Fluss. Da bei uns die Bundestagsabgeordnete Zaklin Nastic mitgereist war, die zuvor über den Deutschen Bundestag eine Einreiseerlaubnis für sich und ihre Begleitung bekommen hatte, durften wir nach allerlei Stempelformalitäten den Fluss in einem kleinen Motorboot passieren.
Auf der anderen Seite war Rojava, wo ich noch nie zuvor gewesen war, gleichwohl ich dreißig Jahre lang verschiedenste Gebiete Kurdistans regelmäßig besucht hatte. Mein erster Eindruck war, dass ich in der Passstelle über dem Schreibtisch der Zuständigen ein großes Portrait Abdullah Öcalans als Staatschef sah. Das war für mich hammerhart. Hatte ich 1991 Apo doch im Libanon persönlich kennengelernt und mit höchstem Respekt verfolgt, wie er in seinen Analysen und der Kraft seiner unter den KurdInnen überall anerkannten Führungspersönlichkeit richtungsweisend bewirkt hatte, dass sich die PKK von einer marxistisch-leninistischen zu einer marxistisch-anarchistischen Bewegung entwickelte. In der Analyse des Kapitalismus und dessen zwangsläufiger Konsequenz von Krieg und Ausplünderung marxistisch, in der Frage des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsform, sowohl in demokratischer als auch ökonomischer Hinsicht eher anarchistisch, geleitet von dem Gedanken der Kooperativen, der Gleichberechtigung der Geschlechter und Ethnien sowie des Konföderalismus.
Nun hing da plötzlich das Bild Apos als Staatsoberhaupt, während das Zeigen seines Bildes auf einer Fahne in Deutschland unter Strafe steht, weil es Förderung des Terrorismus bedeutet. Natürlich dachte ich an Mandela, der 25 Jahre im Knast saß – Apo hat es bis jetzt erst auf 19 Jahre gebracht – und wünschte mir, dass ihm vielleicht doch noch vor seinem Tod oder seiner Ermordung die gleiche ihm genauso zukommende Ehre und Funktion wie Mandela zu Lebzeiten zukommen mögen sollte.
Empfangen bzw. begrüßt wurden wir von einem Komitee, das extra für uns gekommen war. Nach einigen gegenseitigen Ansprachen wurden wir auf zwei oder drei Autos verteilt, die voran- und hinterherfahrend von einer schwerbewaffneten Eskorte begleitet wurden.
Wir fuhren zwei oder drei Stunden durch eine bergige Region, die vor allem von Schwengelpumpen geprägt waren, wie ich sie auch aus Niedersachsen oder der Gegend um Batman, der Erdölmetropole der Türkei in der nach Diyarbakir und Wan wohl größten kurdischen Stadt in der Türkei kenne. Diese Pumpstationen, hatte man mir dort erklärt, förderten kein Erdöl, sondern pumpten Luft in die unterirdischen Ölfelder, um mittels des dadurch entstehenden Drucks das Öl andernorts zum Heraussprudeln und damit zum Abzapfen zu bringen. Unser Fahrer berichtete, dass die einst staatlich vom (Assad-)Regime kontrollierte Erdölproduktion in Rojava zunächst in die Hände des IS gefallen sei und dann von den KurdInnen übernommen wurde. Sie hätten sogar zumindest eine Raffinerie unter ihrer Kontrolle. Das so gewonnene Benzin bzw. den Diesel würden sie neben dem Eigenverbrauch nunmehr an das Regime verkaufen (womit Assad bezeichnet wird), während Rohöl an die Kurdische Autonomie Region (Barsani) geliefert würde, nachdem dieser die Ölquellen bei Kirkuk und Mossul an den irakischen Zentralstaat hatte abgeben müssen. Diese Angaben wurden uns später mehrfach bestätigt.
Dann kamen wir nach Quamislo, einer seit der kolonialen Aufteilung der Region nach dem 1. Weltkrieg zwischen der Türkei und Syrien geteilten kurdischen Großstadt. In dem türkischen Teil (Nusaybin) war ich mit Menschenrechts- oder Wahlbeobachtungs-Delegationen schon oft gewesen. Zuletzt 2015, kurz bevor die Stadt von der türkischen Armee weitgehend zerstört wurde, nachdem sich die Menschen samt ihrer Verwaltung von der Türkei losgesagt hatten. Nun sahen wir diesmal in der umgekehrten Richtung von Qamislo nach Nusaybin hinüber, über die in den vergangenen zwei Jahren von der Türkei errichtete 900 km lange von Stacheldraht bekränzte Betonmauer, die der einstigen Grenzbefestigung der DDR um nichts nachstand.
Im Stadtrat von Qamislo wurden wir wie eine Staatsdelegation von den stets weiblich/männlich Co-Vorsitzenden der politischen und der Verwaltungsebene empfangen. Natürlich kreisten die Gespräche neben den üblichen Höflichkeiten immer wieder um die Frage, wie es denn möglich sein könne, dass Deutschland und Russland der Türkei den Einmarsch ihrer Truppen und Milizen in Afrin und deren Bombardierung durch NATO-Kampfjets gestattet und die Amerikaner dabei zugesehen hätten. Diese Fragestellung ergab sich bei allen weiteren Gesprächen, und außer unserer Antwort, dass wir beschämt seien und natürlich weiter dagegen publizistisch und im Bundestag angehen würden, konnten wir nicht viel Mutmachendes erwidern.
Nach der herzlichen Verabschiedung wurden wir mit unserer Eskorte in das 30 km entfernte Amoude gebracht – eine Kleinstadt von gut zehntausend Einwohnern, in der die Gesamt-Rätevertretung/Parlament von Rojava tagt, wo wir in deren Gästehaus untergebracht wurden.
Nach einem längeren Gespräch mit den SprecherInnen der Rätevertretung - einem Kurden und einer assyrischen Christin - fuhren wir weiter westlich nach Kobani, jener legendären Stadt, in der nach einem mehrmonatigen Widerstand im Februar 2015 der Siegeszug des IS erstmals durchbrochen wurde. Bei den Auseinandersetzungen waren 70% der Hunderttausend-Einwohner-Stadt zerstört worden. 48 Selbstmordattentäter – vorwiegend junge Männer aus Frankreich und Deutschland – hatten sich dort in die Luft gesprengt. Die Amerikaner hatten die durch die Wüste wie auf dem Präsentierteller heranrückenden Wagen-Kolonnen des IS erst angegriffen, nachdem sie das Stadtzentrum erreicht hatten. Die Folge waren unermessliche Verluste unter der Zivilbevölkerung, den verteidigenden KämpferInnen der YPG/YPJ – mindestens 2000 von ihnen sind gefallen - und Zerstörungen der Stadt, von der seither 40-60.000 Wohnungen wiederaufgebaut wurden. Als jemand, der seit vielen Jahren in Altona mit Stadtplanung befasst ist, war ich von dieser Aufbauleistung genauso tief beeindruckt wie von der stadtplanerischen Gestaltung. In einem Zementwerk, das noch aus der Zeit des Regimes stammt, wurden seit der Befreiung der Stadt vom IS Megatonnen Bauschutt zermahlen und zu Zement verarbeitet, und das in einem Rund-um-die-Uhr-Betrieb. Stadtplanerisch sagten mir die Mitglieder der Baukommission (natürlich paritätisch weiblich/männlich besetzt), dass sie zwar neben kommunalen auch mit privaten Baufirmen zusammenarbeiten würden, aber grundsätzlich keine Genehmigungen für mehr als dreigeschossige Bauvorhaben mit einem Staffel-/Dachgeschoss erteilen würden und der Zuschnitt der Wohnungen familiengerecht von den dafür zuständigen Komitees festgelegt würde. Auch die Höhe der Mieten wird in diesen Räten festgelegt, wobei bedürftige Familien, deren Hauptversorger gefallen sind, gar nichts oder fast nichts bezahlen müssen.
Nach einem Besuch mit Kranzniederlegung auf dem Märtyrerfriedhof von Kobani wurden wir zu einer im Krieg berühmt gewordenen Anhöhe gefahren, von der aus der IS die Region beherrscht hatte, die dann aber von den kurdischen FreiheitskämpferInnen verlustreich zurückerobert worden war. Der während der Belagerung Kobanis zuständige Oberkommandierende der YPG, der inzwischen Verteidigungsminister Rojavas geworden war, sagte uns, er habe immer wieder versucht, mit den Kommandeuren des IS zu verhandeln, um das schlimmste an kriegerischen Auseinandersetzungen zu vermeiden. Das sei aber nicht möglich gewesen, da diese immer wieder durch ihre Berufung durch Allah und ihren Aufstieg in der Punkteskala zum Paradies geredete hätten, was ihnen keine Wahl ließe. Die Anführer waren nach seiner Aussage Araber aus Rakka oder dem Irak, während die für die YPG-Kämpferinnen verlustreichsten Scharfschützen aus Tschetschenien oder Afghanistan kamen. Die Selbstmordattentäter fast ausschließlich aus Europa, denen versprochen worden war, dass sie im Paradies eine große Menge von Engeln, Jungfrauen bzw. Sexsklavinnen (die Abgrenzung war schwimmend) erwarten würden, wobei deren Zahl davon abhinge, ob sie durch eine Bombe getötet worden (höchste Priorität), im Kampf gegen einen Mann gefallen seien (mittlere Priorität) oder durch eine Frau getötet wurden (Leerausgang). Deswegen hatten die Dschihadisten am meisten Angst vor der kurdischen Frauen-Guerilla (YPJ), erzählte mir der Oberkommandierende. Wenn der Hintergrund mit Tausenden Toten nicht so entsetzlich wäre, hätte man sich schmunzelnd/kopfschüttelnd an die Stirn fassen können.
Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Minbij, einer Stadt mit wohl eher hunderttausend EinwohnerInnen. Dort gab es zwar auch einen arabisch/kurdischen Co-Vorsitz des Stadtrates mit einer Araberin als Sprecherin, allerdings erschien nach einiger Zeit, in der mehr Höflichkeiten ausgetauscht wurden, der wohl mächtigste arabische Scheich der Region und riss die Gesprächsführung sofort an sich. Auf Fragen verhielt er sich zwar sehr wortgewaltig, aber ohne irgendeine Konkretisierung. Weder in Bezug auf die Russen/Assad noch auf die Türkei mit ihren dschihadistischen Milizen noch auf die Amerikaner und Franzosen mit ihren undurchsichtigen Plänen.
Unsere Gesprächsanfrage mit den Amerikanern und Franzosen war zuvor brüsk abgelehnt worden. Wenn ich, während ich diese Zeilen schreibe, ständig befürchte, dass Erdogan den mehrfach angekündigten Angriff zur 'Befreiung' von Minbic mit amerikanischer Unterstützung noch vor der türkischen Parlaments- und Sultanswahl am 24.6. einleitet, denke ich an all diese dort lebenden Menschen, denen dasselbe Schicksal wie in Afrin droht, wo kaum hundert Kilometer entfernt inzwischen unter dem Schutz der NATO die Scharia wiedereingeführt wurde, nach der Frauen nur vollverschleiert in Begleitung ihres Gatten oder Bruders auf die Straße dürfen. Von den öffentlichen zur Schau gestellten Hinrichtungen von angeblichen Schmugglern oder gar YPG-Unterstützern ganz zu schweigen.
Danach besuchten wir den obersten Militärrat Rojavas, der zwar einen äußerst eloquenten englischsprachigen Sprecher hatte, aber ansonsten natürlich auch geschlechterparitätisch besetzt war. Dort wurde uns mehr von den letzten Kämpfen gegen den IS in Deir-Zor berichtet, wo immer noch täglich bis zu 24 unser KämpferInnen fallen, als von den vermutlich bevorstehenden viel schwerwiegenderen Auseinandersetzungen um Minbic.
Danach besuchten wir ein Ausbildungs-Camp der YPJ, der Frauen-Guerilla. Frauen sind in Rojava im Gegensatz zu Männern nicht wehrpflichtig. Allerdings beteiligen sich ca. 30% der jungen Frauen freiwillig am Militärdienst und sind mit Feuereifer dabei , für die erworbenen Rechte als Frauen notfalls auch in den Tod zu gehen. Die jungen Frauen in Uniformen, die z.T. aber auch neben ihrer militärischen Ausbildung mit Lippenstiften geübt hatten, kicherten über mich als einen Weihnachtsmann und wollten gerne mit mir fotografiert werden – vermutlich, um die Fotos ihren Eltern zur Beruhigung zu senden.
Als abschließenden Teil meines Berichtes möchte ich noch das Frauen-Dorf erwähnen. Von dem Frauen-Dorf hatte ich schon in Altona gehört, war aber nicht wirklich davon überzeugt. Was wir vorfanden, hat mich allerdings eines Besseren belehrt. Frauen hatten unter dem Koordinationsrat des Frauenkomitees unter Mithilfe von kurdischen Männern und Internationalistinnen eine Viertelmillion Lehmziegel aus dortigem Boden gestochen, geformt und verarbeitet und damit 30 Häuser errichtet, die ausschließlich für Frauen mit oder ohne Kinder vorgesehen sind. Brunnen bis in 200 m Tiefe wurden gebohrt, um die vielfältige Landwirtschaft mit Aprikosen-, Granatapfel- und Olivenbäumen voranzubringen. Genau wie Gemüsebeete und aufzubauende Schaf-/Ziegenherden mit angedockter Käseproduktion. Geplant sind in diesem Dorf ein Gesundheitszentrum, eine Bäckerei und Werkstätten aller Art. Männer dürfen sich jederzeit am Aufbau dieser Strukturen, haben aber nicht wirklich etwas zu sagen, was genau wie von der kurdischen Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern wie auch von mir etwas kritisch gesehen, aber irgendwie doch als etwas tolles Neues empfunden wird.
Robert Jarowoy
Nicht, um Silvester zu feiern, bin ich am 31.12.11 nach Diyarbakir geflogen, sondern, um zusammen mit drei kurdischstämmigen Landtags- bzw. Bürgerschaftsabgeordneten in ein Dorf an der irakischen Grenze der Türkei zu reisen. Genauer gesagt, nach Robotski bei Uludere in der Provinz Sirnak, wo zwei Tage zuvor 35 Zivilisten durch einen Angriff türkischer Kampfjets um's Leben gekommen waren. Angeblich aus Versehen. In der deutschen Presse wurde der türkische Ministerpräsident Erdogan zitiert, der gesagt hatte, es sei unmöglich gewesen, genau zu klären, ob es sich bei den Grenzgängern um Schmuggler oder PKK-Guerillas gehandelt habe. Deshalb sei es zu dem in seinem Ausgang bedauerlichen Vorfall gekommen.
Wir verbringen die Silvester-Nacht in einem mitten in Diyarbakir gelegenen Hotel. Trotz der zentralen Lage ist auf den Straßen kaum ein Auto zu sehen. Die BDP (Friedens- und Demokratiepartei), die in den meisten kurdischen Städten die BürgermeisterInnen und somit die Kommunalverwaltung stellt und im türkischen Parlament 36 Abgeordnete hat, von denen allerdings sechs im Gefängnis sitzen, hat zu einer dreitägigen landesweiten Trauer aufgerufen. Keine Silvesterrakete erleuchtet den Himmel über Diyarbakir, kein Hupkonzert in der sonst so wenig geräuscharmen kurdischen Millionen-Metropole. Im Fernsehen in der Hotel-Lounge werden Silvester-Feiern aus Istanbul gezeigt. Es geht zu wie in einer Show von RTL. Um 0 Uhr wird ein gewaltiges Feuerwerk über dem Goldenen Horn gezeigt, danach Bilder vom Brandenburger Tor. Ein unglaublicher Kontrast zwischen dieser fast völlig verstummten Stadt und dem ausgelassen-rauschhaften Treiben der Menschen in Istanbul und Berlin.
Der Kellner schaltet den Fernseher um auf das in der Türkei eigentlich verbotene, von Brüssel bzw. Kopenhagen ausgestrahlte kurdische Roj-TV. Es werden Bilder von einer brutal aufgelösten spontanen Demonstration vom Vormittag aus Diyarbakir gezeigt. Anlass war der Tod zweier junger Männer, die angeblich PKK-Kämpfer gewesen sein sollen. Sie sind in der Nacht durch zivile Sicherheitskräfte per Kopfschuss regelrecht hingerichtet worden. Mitten in Diyarbakir.
300 km östlich fahren wir in einem PKW von der Provinzhauptstadt Sirnak in Richtung des Dorfes, in dem der Angriff der Kampfjets erfolgt ist. Aufgrund des zuvor den Behörden angekündigten Besuchs einer Parlamentarier-Delegation aus Deutschland werden wir an mehreren Militärsperren nach kurzer Inaugenscheinnahme unserer Pässe bzw. Abgeordnetenausweise durchgewunken.
Das hört sich für mich beim Nachlesen so an, als spräche ich von einer Verkehrskontrolle in Hamburg. Deshalb ein paar erklärende Worte hierzu. Eine Militärsperre in den kurdischen Gebieten der Türkei ist eine dauerhafte Einrichtung an einer wichtigen Straße. Am Straßenrand Wachttürme mit aufgestapelten Sandsäcken. Aus den Schießscharten sind Gewehrläufe auf die Straße und das Umfeld gerichtet. Das oberhalb davon gelegene Areal ist mit Rollen von NATO-Stacheldraht und Mauern umgeben. Überall sind Scheinwerfermasten errichtet. Oben auf dem Hügel befindet sich die Kommandantur. Auf der Straße im Hintergrund zwei Schützenpanzer, davor Halt-Schilder ('Dur!') und bewegliche Sperrgitter mit Stacheldraht umwickelt. Dazwischen junge Soldaten mit Maschinenpistolen. Nicht anders als einst an der innerdeutschen Grenze, von deren Unmenschlichkeit den Schulkindern ja heute noch gerne berichtet wird. Auf der Straße zwischen Sirnak und Uludere/Robotski alle 20 Kilometer eine solche Grenze mit Todesstreifen im eigenen Land. Oder ist es gar nicht das eigene, sondern ein besetztes fremdes Land?
Wir treffen in Robotski ein. Das große, weit auseinander liegende Dorf wird von allen Seiten von hohen, zum Teil schneebedeckten Berggipfeln umgeben. Vor einem riesigen Zelt, das mich von der Form her an ein winterliches Tenniszelt in Deutschland erinnert, stehen viele Menschen zwischen geparkten Pick-ups, PKWs und Kleinbussen. Wir werden erwartet, da wir in Begleitung von Anwälten aus Sirnak gekommen sind, die die näheren Umstände des Kampfjet-Einsatzes untersuchen. Man geleitet uns in das Zelt. An der Stirnseite sitzen in einer Reihe sehr viele alte Männer auf Plastikstühlen. Ihnen gegenüber, ebenfalls auf solchen Stühlen, sitzen gestaffelt in langen Reihen dicht an dicht sehr viele weitere Männer, deren Augen stumm auf uns gerichtet sind.
Wir gehen die Formation an der Stirnseite des Zeltes ab, während durch einen Lautsprecher gesagt wird, dass wir eine Parlamentarier-Delegation aus Deutschland seien. Die alten Männer erheben sich der Reihe nach und schütteln jedem von uns die Hand. Es sind die 35 Familienvorstände der Getöteten. Sie sitzen nun schon den fünften Tag hier und nehmen die Kondolenzbesuche von täglich zwischen 300 und 500 Besuchern entgegen. In stummer, aber gefasster Trauer. Wir setzen uns eine Weile ihnen gegenüber zu den anderen Trauergästen und trinken Tee. Ein paar Fotos werden gemacht. Ein paar Dutzend weitere Hände geschüttelt.
Dann verlassen wir das Zelt und werden in ein daneben liegendes Gebäude geführt. Vermutlich das Dorf-Gemeinschaftshaus, wo es Toiletten, eine Küche und einen kahlen Versammlungsraum mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen gibt. Wir nehmen hinter dem Schreibtisch Platz. Uns gegenüber stehen eine Reihe Männer, für die nach und nach hinzutretenden Frauen werden Stühle durchgereicht.Es beginnen die Schwester und die Verlobte eines der Getöten zu berichten. Es folgen weitere Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen. Sie alle tragen Fotos ihrer getöteten Angehörigen in ihren Händen. Alle Getöteten waren junge Männer zwischen 16 und 23 Jahren. Die Frauen haben immer wieder mit den Tränen zu kämpfen. Ich verstehe sprachlich nur wenig. Sie reden Kurdisch, und es ist unmöglich, ihre von Trauer und Zorn erfüllten Anklagen gegen den Staat, den Mörder Erdogan und seine ausländischen Helfer durch Übersetzungen zu unterbrechen. Mir werden von meinen Mitreisenden nur ein paar grob erläuternde Worte ins Ohr geraunt, aber das reicht, um zu verstehen. Später erfahre ich, dass sie zusätzlich empört waren über die knapp 10.000 €, die die Regierung ihnen allen zusammen als Entschädigung angeboten hat. Sie betonen immer wieder, dass sie kein Geld wollten, sondern ein Ende des Krieges gegen ihr Volk. Am Tag zuvor war der Provinzgouverneur als Überbringer des Entschädigungs-Angebotes mitsamt seiner Bodyguard von den aufgebrachten Dorfbewohnern unter Hochrufen auf den seit 12 Jahren inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan ('Biji serok Apo!') vertrieben worden, was übrigens auf allen Nachrichten-Kanälen wie CNN oder NTV landesweit übertragen wurde.
Wir begeben uns zusammen mit Dutzenden Frauen zu den mit Papierblumen geschmückten frischen Gräbern auf dem oberhalb des Dorfes gelegenen Friedhof. Unterwegs erfahre ich. Die jungen Männer waren wie gewohnt unter den Augen des nahegelegenen Militärstützpunktes in zwei Gruppen über die irgendwo fiktiv im Berg liegende Grenze in ein auf der anderen Seite im Irak liegendes Dorf gegangen, um günstigen Diesel-Treibstoff für ihre Traktoren und zollfreie Zigaretten zum Weiterverkauf zu besorgen. Andere Erwerbsmöglichkeiten gibt es in dieser Gegend zumal im Winter nicht. Von der ersten Gruppe wurden alle getötet. Als die Dorfältesten daraufhin bei der Kommandantur anriefen und sagten, dass es sich um ihre Leute und keine Guerillas handele, wurde ihnen geantwortet, das wisse man, man wolle ihnen – in freier Übersetzung - nur ein bisschen Feuer unter dem Arsch machen. Von der zweiten Gruppe überlebten drei junge Männer und ein Pferd mit schwersten Verletzungen.
Die Haltung des türkischen Staates zu diesem Vorfall wurde bei der Parlamentsdebatte dazu am klarsten von dem Fraktionsvorsitzenden der faschistischen MHP zum Ausdruck gebracht, als er sagte, dass jegliche Militäreinsätze gerechtfertigt seien, wenn auch nur 1% Möglichkeit bestünde, dass man damit die PKK träfe, egal, ob es sich dabei um Zivilisten oder Guerillakämpfer handele. So offen wird es von Erdogan und seiner alleinregierenden AKP-Partei zwar nicht formuliert, aber die Praxis seiner Politik sieht nicht anders aus.
Robert Jarowoy, Diyarbakir, den 3.1.2012