Newroz, das heißt auf kurdisch Neuer Tag, symbolisiert die Sehnsucht des kurdischen Volkes nach Einheit, Frieden und Freiheit. Etwas, was diesem 40-Millionen-Volk noch nie in seiner dreitausend jährigen Geschichte vergönnt war. Allenfalls damals ganz am Anfang der kurdisch-medischen Geschichte, als der Schmied Kawa 625 v.u.Z. in einem symbolischen Widerstandsakt mit seinem Hammer den tyrannischen Assyrer-König Derhak erschlug und damit die Befreiung der indoeuropäischen Völker des Mittleren Ostens (Kurden, Perser und Afghanen) einleitete. Diese Legende findet sich historisch wieder in der Schleifung von Ninive (bei Mossul im Nord-Irak oder vielmehr in Süd-Kurdistan) und damit dem Ende der assyrischen Sklavenhalter-Herrschaft über Mesopotamien.1

Nun sind wir seit 1992 jährlich mindestens einmal in die kurdischen Gebiete der Türkei gefahren im Rahmen von Menschenrechtsdelegationen, die den deutschen und türkischen Regierungsstellen und ihren Vertretungen vor Ort von verschiedenen Gewerkschaften, Parteien und humanitären Organisationen angemeldet worden waren. Wir, das sind inzwischen ungefähr 200 vorwiegend aus Hamburg stammende Menschen unterschiedlichsten Alters, Berufs und weltanschaulicher Ausrichtung.
März 2012. Wir sind diesmal 12 Leute, die meisten in Der Linken organisiert. Unter uns die kurdisch stämmige, aber am Osdorfer Born geborene Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir. Unsere Reise wurde den Behörden kundgetan von der Linksfraktion der Hamburgischen Bürgerschaft und dem Hamburger Bundestagsabgeordneten und außenpolitischen Sprecher Der Linken, Jan van Aken, der 2010 schon einmal mit uns in dieser Region unterwegs war.2

Wir kommen am 16.3. in Diyarbakir, der Millionenmetropole und heimlichen Hauptstadt eines bislang noch nie existierenden Kurdistan an. Wir erfahren, dass die Newroz-Veranstaltung in Diyarbakir, die eigentlich am Sonntag, den 18.3., stattfinden soll, verboten wurde. Die Veranstaltung wurde von der BDP (Friedens- und Demokratiepartei) angemeldet, die in Diyarbakir mit 68% der Stimmen den gewählten Bürgermeister stellt. Verboten wurde die Veranstaltung von dem vom Innenministerium eingesetzten Gouverneur (Vali) mit der Begründung, der Newroz-Tag, den der türkische Staat beharrlich in türkischer Schreibweise Nevruz nennt, sei am Mittwoch, den 21. März, weswegen nur an diesem Tag gefeiert werden dürfe, obwohl der Tag nicht etwa als Feiertag freigegeben, sondern als normaler Arbeitstag angesetzt ist, an dem SchülerInnen, LehrerInnen, BeamtInnen und Angestellte des öffentlichen Dienstes sogar einem Verbot auf Krankschreibungen unterliegen.

An die allgemeine Presse und Öffentlichkeit:

Beobachterdelegation der Linksfraktion im Bundestag im Auftrag Dr. Jan van Aken (MdB und außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion)

Wir sind eine Delegation aus Hamburg und Umgebung. Wir sind nach Diyarbakir gekommen, um gemeinsam mit dem kurdischen Volk das Newroz-Fest zu feiern.

Das bereits genehmigte Fest wurde kurzfristig von dem örtlichen Gouverneur verboten.

Trotz aller militärischen und polizeilichen kriegsähnlichen Angriffe ist die ganze Bevölkerung Diyarbakirs auf den Beinen, um ihr Newroz-Fest zu feiern.3

Wir verurteilen das militante Vorgehen des türkischen Staates und seiner Organe gegen die örtliche Bevölkerung einschließlich der örtlichen Mandatsträger wie Bürgermeistern, Parlamentsabgeordneten und Parteivorstand der BDP.

Das Volk traf sich vor dem örtlichen Parteibüro. Wir haben erlebt, wie in diese friedliche und feierliche Stimmung vor dem BDP-Parteigebäude Wasserwerfer und CS-Gas eingesetzt wurde. Es gab viele Verletzte.

Bereits am frühen Morgen waren alle Zugänge zum Festplatz von Polizei und Militär abgesperrt worden. Alle Menschen, die an den Sperren vorbei wollten, wurden mittels CS-Gas Einsatzes und deutscher Militärtechnik (gepanzerte Mercedes-Geländewagen) aufgehalten. CS-Gas ist seit Jahren in Deutschland verboten. Das Militär scheute sich auch nicht, mit Schlagstöcken gegen friedliche Menschen vorzugehen.

Wir haben mitangesehen, dass, sobald mehr als 5-10 Personen beieinander stehen, diese direkt von der Polizei mit verschieden Mitteln (Schlagstöcken, Gasgranaten, Wasserwerfern, etc.) angegriffen werden.

Im Umkreis des zentralen Festplatzes werden alle Versuche der Bevölkerung, auf den Platz zu kommen, um gemeinsam zu feiern, auf schärfste und brutalste zum scheitern gebracht.

Im großen und ganzen können wir bis jetzt als Fazit festhalten, dass wir durch unsere persönlichen Erlebnisse und Eindrücke, dass der Wunsch der Menschen, ein friedliches Fest feiern zu wollen, mit kriegsähnlichem Zustand und Aktionen beantwortet werden. Dies wird vor allem durch den Einsatz von Panzern und scharfen Waffen nochmals bestätigt.

Wir verurteilen aufs Schärfste die Vorgehensweise des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung.

Hintergrund dieser nicht nur in Diyarbakir, sondern in der ganzen Türkei gültigen Maßnahme ist ganz offensichtlich der Versuch, die massenhafte Beteiligung der Kurdinnen und Kurden zu behindern, die veranstaltende BDP vor kaum lösbare technische und organisatorische Probleme zu stellen und das kurdische Volk zu demütigen, indem der türkische Staat ihm vorschreibt oder vielmehr vorzuschreiben versucht, wann es seinen größten Feiertag zu begehen habe.

Was die technischen und organisatorischen Probleme anlangt, so sei darauf verwiesen, dass die Anzahl von verfügbaren Bühnen und Lautsprecheranlagen für Veranstaltungen mit bis zu einer Million TeilnehmerInnen natürlich begrenzt ist, gleichermaßen die prominenten Volks-SängerInnen und RednerInnen, zumal fast 8000 FunktionsträgerInnen der BDP seit eineinhalb Jahren durch Inhaftierung aus dem Verkehr gezogen wurden.

Das kurdische Volk hat seit seiner Blütezeit nach der medischen Erhebung bis zum Einmarsch der Griechen unter Alexander dem Großen, dann der Römer und Byzantiner nur Unterdrückung erlebt, die sich fortsetzte in der seldschukisch-osmanischen Herrschaft, die im 17. Jahrhundert die bis heute andauernde Teilung Kurdistans zwischen dem Iran und der Türkei bewirkte.

In Diyarbakir versuchten wir, zunächst vergebens, den Festplatz zu erreichen und wurden dabei vor der Parteizentrale der BDP unter Einsatz von tränengasgeladenen Wasserwerferstrahlen regelrecht weggepustet. Dennoch gelang es uns, wie ungefähr einer Million anderer Menschen, den Festplatz zu erreichen, und an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Letztlich unbehelligt von der anfangs extrem aggressiven Polizei, die regelrecht weggedrückt bzw. beiseite geschoben worden war von den überall herbei strömenden Massen.

Am nächsten Tag sind wir in einem von uns gecharterten Kleinbus (Dolmus) über Mardin, entlang der syrischen Grenze, nach Cizre und weiter nach Sirnak gefahren. Dort haben wir mit dem stellvertretenden BDP-Vorsitzenden gesprochen (der Vorsitzende und der Bürgermeister befinden sich im Gefängnis). Als wir sagten, dass einige von uns 1992 erstmals in Sirnak gewesen waren, erzählte er uns von damals. Von dem Angriff der türkischen Armee an Newroz 92, bei dem er ein Bein verlor. Nachdem wir im Mai die zerschossene Stadt besucht hatten, hat die türkische Armee im August 92 eine erneute Zerstörung Sirnaks vorgenommen, in deren Folge 10.000 BewohnerInnen der kaum 80.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt über die Grenze nach Irak flüchteten, wo sie heute noch in dem Flüchtlingscamp Maxmur leben, das wir im vorigen Jahr besucht haben. Der stellvertretende Vorsitzende sagte, er sei damals der einzige von seiner Familie gewesen, der da geblieben sei, in der Türkei, weil er den Widerstand fortführen wollte und dies bis heute nicht ganz erfolglos getan hat, denn Sirnak ist weiterhin eine der Hochburgen des kurdischen Widerstandes.

Am nächsten Tag sind wir in das Dorf Roboski gefahren, in dem zwei Mitglieder unserer Delegation, u.a. die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir, bereits im Januar im Rahmen einer ParlamentarierInnendelegation gewesen waren, nachdem dort 34 junge Männer durch Bomben türkischer NATO-Kampfjets getötet worden waren.

Was war geschehen? Die jungen Männer (zwischen 14 und 24 Jahren alt) waren wie gewohnt als Grenzgänger mit ihren Maultieren über die mitten in den Bergen gelegene fiktive Grenze gezogen, um Zigaretten und Treibstoff zollfrei im Irak zu besorgen und auf der anderen Seite in der Türkei zu verkaufen. Die einzige Möglichkeit, sich in dieser Region, in der die türkische Armee durch die Verminung der Almen die Landwirtschaft unmöglich gemacht hat, sich einen wenn auch geringen Lebensunterhalt zu verdienen. Die unmittelbar neben dem Dorf gelegene türkische Garnison wusste, um was es ging. Ebenso der türkische Ministerpräsident Erdogan und die Generalität. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen bombardierten zwei NATO-Kampfjets zweimal hintereinander die beiden Schmuggler-Gruppen und töteten 34 von ihnen. Lediglich zwei überlebten mit schwersten entstellenden Verbrennungen.

Wir kommen in das Dorf. Die Mütter, Schwestern, Verlobten und Großmütter kommen in schwarzen Trauerkleidern mit den Fotos in kostbare Rahmen gefasst, von den Ermordeten auf uns zu und gruppieren sich in einem weiten Kreis um uns. Die anfänglich sehr dominanten Männer, die voller Wut und Empörung ihren Zorn herausgeschrieen haben, verstummen und überlassen den Frauen das Wort. Alle, obwohl z.T. sehr schüchtern und ängstlich, wollen uns ihre Verzweiflung, ihr Entsetzen, ihr Unverständnis, ihre Trauer mitteilen. Warum? Was haben die Jungs denn irgendwem getan? Und Erdogans Frau war nach dem Massaker bei uns, wir haben für sie gekocht, sie hat uns ihr Beileid ausgesprochen, weil alles nur ein Versehen gewesen sei, ist dann aber nie wieder aufgetaucht. Wir sagen, dass sie genauso schuldig ist wie ihr Mann, der Ministerpräsident. Sie töten unsere Kinder, nur, weil wir Kurden sind, und sie werden dabei von Europa unterstützt. Wir wissen, dass ihr daran nichts ändern könnt, aber Europa trägt die Schuld daran, dass unsere Kinder umgebracht werden. Aus meiner Familie wurden bisher 12 Menschen an dieser Grenze umgebracht. Ich habe meinen Enkel großgezogen, und er hat gesagt, Oma, ab jetzt sorge ich für dich. Jetzt ist er tot. Wer wird sich denn nun um mich sorgen?4

Anschließend fahren wir nach Batman, der erdölreichsten Stadt im kurdischen Gebiet der Türkei. Hier waren wir schon 1992. Damals hatten wir u.a. ein Gespräch mit Siddik Tan geführt, dem Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, der gerade einen Bomben-Anschlag auf sein Auto überlebt hatte. Zwei Wochen nach unserem Besuch wurde er genau wie unser Dolmetscher Ahmet, ein gerade aus Deutschland zurückgekehrter ehemaliger 'Gastarbeiter', vor seinem Haus von 'unbekannten Tätern' erschossen.

Nun sind wir wieder in Batman, einer Stadt mit inzwischen ca. 650.000 EinwohnerInnen. Die Stadt hat sich zum einen durch die vertriebenen Menschen aus den von der türkischen Armee Ende der 90er Jahre zerstörten 4000 kurdischen Dörfern so erweitert, zum anderen hat sie wegen der Erdöl-Förderindustrie Arbeiter und auch Geld angezogen. Kein Vergleich zu damals.

Wir werden im Gästehaus der Stadtverwaltung untergebracht. Die BDP hat hier in Batman mehr als 70% der Stimmen bei allen Wahlen bekommen. Dennoch befindet sich der Bürgermeister wie in den meisten kurdischen Städten im Gefängnis. Wir werden sehr herzlich begrüßt, obwohl uns nicht unbemerkt bleibt, dass die Verantwortlichen unter einem enormen Druck stehen. Man hat zwar gesagt, dass die BewohnerInnen von Batman es denen von Diyarbakir gleichtun würden, weiß aber auch, dass der türkische Staat sich nicht noch einmal so eine Blamage erlauben würde und in dem nur halb so großen Batman im Vergleich zu Diyarbakir ein Exempel seiner Macht zu positionieren wollen würde. Dass dies dann auch in einem mörderischen Polizeieinsatz geschehen ist, haben wir dokumentiert und verweisen auf den link.*Reizgasgranaten von der türkischen Polizei aus nächster Nähe in einen vollbesetzten Parteibus der BDP geschossen*

InsassInnen nach dem Verlassen des Busses schwer misshandelt, darunter
der türkische Parlamentsangehörige Ahmet Türk, die Hamburger
Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir sowie die ehemalige
Europaparlamentsabgeordnete Felecnaz Uca.

Die BDP (Partei für Frieden und Demokratie), die in den meisten kurdischen Städten die BürgermeisterInnen stellt, hatte zum traditionellen kurdischen Neujahrsfest Newroz in allen kurdischen Städten, aber auch in den türkischen Metropolen mit einem großen
kurdischen Bevölkerungsanteil wie Istanbul oder Adana, Großveranstaltungen unter freiem Himmel angemeldet, die aus technischen und organisatorischen Gründen an drei Tagen, dem 18., dem 20. und dem 21.03. stattfinden sollten und entsprechend langfristig vorbereitet worden waren.

Wenige Tage vor den Feierlichkeiten untersagten die vom Innenministerium
eingesetzten Gouverneure alle Feiern, die nicht für den 21.03. vorgesehen
waren.

Am Sonntag, den 18.03., setzte die Bevölkerung, insbesondere in Diyarbakir, unter Beteiligung von einer Millionen Menschen trotz des Verbots und massiver Behinderungsversuche seitens der Polizei die Feierlichkeit durch, weil das kurdische Volk sich nicht vorschreiben lassen will, wann und zu welchen Bedingungen es seinen größten Feiertag zu begehen hat. Ähnliches sollte am heutigen 20.3. für die genauso langfristig
angesetzte Newrozfeier in Batman erfolgen. Doch die offenbar auf Rache eingestellte Polizei ging mit enormen Kräften und äußerster Härte mit gepanzerten Fahrzeugen (Wasserwerfern, Räumfahrzeugen und Schützenpanzern) gegen die sich vielerorts sammelnden Menschenmengen vor. Trotz aller Verhinderungsversuche gelang es dem nach oben offenen, mit einer Plattform versehenen Mobilisierungsbus der BDP, den Festplatz zusammen mit einigen Tausend Menschen zu erreichen. Nach einigen
Redebeiträgen begannen die zum Teil festlich gekleideten Menschen zu kurdischer Musik zu tanzen und zu singen.

Im Bus befanden sich neben Ahmet Türk und führenden Mitgliedern der örtlichen BDP auch die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir und eine vom Hamburger Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Jan van Aken als Beobachtergruppe beauftragte Hamburger Delegation.

Als der Bus wegen des immer massiver werdenden Beschusses der Menge mit
Tränengas- und Reizgasgranaten die Veranstaltung abbrach und wegfahren wollte, wurde er von herannahenden Panzerfahrzeugen aus nächster Nähe von beiden Seiten unter Beschuss genommen. Nachdem die Fensterscheiben anfangs noch weitgehend standhielten, durchschlug eine Granate die Scheibe und detonierte mitten im Bus. In Panik versuchten die InsassInnen aus dem auf diese Weise gestoppten Bus heraus zu kommen und wurden unter Erbrechen und halb blind von den herbeieilenden Polizisten zusammen geschlagen und teilweise festgenommen. Während sich die 12köpfige deutsche Gruppe, mit Ausnahme der beschimpften und getretenen Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Canzu Özdemir, nach Verlassen des Busses zwar würgend und mit tränenden Augen relativ ungeschoren zurückziehen konnte, wurden die KurdInnen – unter ihnen Ahmet Türk – schwer misshandelt und abgeführt.

Wir sehen diesen Angriff als einen neuerlichen Versuch des türkischen Staates an, unter Inkaufnahme von Toten, darunter ausländischen und eigenen oppositionellen parlamentarischen VertreterInnen, seine Unterdrückungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk mit barbarischen Methoden ungebrochen fortzusetzen.

Dennoch und trotz allem, ein 40-Millionen-Volk wie das kurdische, wird sich nicht auf ewig unter dem Deckel halten lassen. Dass dieses Volk sich unter seiner auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer seit 12 Jahren unter Isolationshaft gehaltenen Führung in Person Abdullah Öcalans in absehbarer Zeit befreien wird, erscheint den meisten von uns nicht unwahrscheinlich.

Unsere Solidarität gilt dem ganzen kurdischen Volk in seinem Kampf für ein solidarisches, gemeinsames und gleichberechtigtes Leben.

Robert Jarowoy, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Beate Reiß, Brigitte Reiß, Hamide Scheer, Frank Schütz