2. April: wir fahren in dem von uns gemieteten Kleinbus von Nusaybin aus entlang der syrischen Grenze nach Ceylanpinar, das einige von uns bereits im Vorjahr besucht hatten. Damals wurde der dortige Grenzübergang von Dschihadisten mit Duldung der Türkei genutzt, um sich den Al-Kaida-Verbänden in Syrien anzuschließen. Kontrollposten des Assad-Regimes hatten sich bereits damals zurückgezogen. Nun sollte die Grenze nach uns zugegangen Informationen ganz geschlossen sein. Dies wollten wir überprüfen und uns ein Bild von der Flüchtlingssituation machen. Deswegen wa­ren wir nach unseren Wahlbeobachtungsterminen am 30.3. zunächst nach Nusaybin gefahren, wo wir von dem BDP-Vorsitzende erfuhren - die BDP ist die prokurdische Friedens- und Demokratie-Partei -, dass es in der gesamten Provinz Urfa, zu der auch das von uns angesteuerte Ceylanpinar gehört, zu massiven Wahlfälschungen gekommen sei.

Auf dem Weg nach Ceylanpinar gerieten wir in eine Militärsperre, die uns aber nach kurzer In-Augenscheinnahme passieren ließ. Schon bei der Einfahrt nach Ceylanpinar sahen wir überall ver­kohlte und zum Teil noch qualmende Überreste des Inhalts umgestürzter und angezündeter Müll­tonnen, verbrannter Autoreifen und anderer Gegenstände, die offenbar als Barrikaden gedient hat­ten. Die Luft waberte noch vom stechenden Geruch des Tränengases. Am Ende der Hauptstraße sa­hen wir einen Wasserwerfer, Barrikadenräumfahrzeuge und eine Polizeikette mit Helmen und Schil­den die Fahrbahn versperren. Ihnen gegenüber stand eine Menschenmenge von 500 oder mehr Per­sonen, die uns stürmisch begrüßte und sofort eine Gasse bildete, damit wir zu Fuß nach vorne an die Sperre gelangen konnten, wo der nach 10 Jahren Amtszeit angeblich abgewählte BDP-Bürger­meister zusammen mit seiner Co-Kandidatin stand (die BDP stellte ausschließlich geschlechterquo­tierte Doppelspitzen für die Bürgermeisterwahlen auf) und in eine heftige Diskussion mit dem Ein­satzleiter – Sonnenbrille, Cappy, Kaugummi – verwickelt war. Als Ergebnis dieser Diskussion ver­kündete der Einsatzleiter, dass er der Forderung nach Rückzug der Polizeikräfte zur Ermöglichung eines Sitzstreiks in einem seitwärts gelegenen Park – mit dem Ziel der neu Auszählung der Stimmen – keinesfalls nachgeben, sondern die Straße nach 5 Minuten räumen lassen würde. Zur Überra­schung aller ließ er jedoch die Polizeikräfte nach verstreichen der Frist zurückziehen. Es schien so. als sei die Polizei angesichts unserer ausländischen Präsenz, die auch von mehreren türkischen Pres­severtretern registriert worden war zurückgewichen. Allerdings nur, um nach unserer Abfahrt umso brutaler unter Einsatz von Gasgranaten erneut gegen die Protestierenden vorzugehen. Wie inzwi­schen im kurdischen Fernsehen dokumentiert, kamen auch vollbärtige Al-Nusra-Söldner in Kampf­anzügen von der anderen Seite der Grenze zum Einsatz, während die im gegenüberliegenden syri­schen Teil der Stadt aus Solidarität demonstrierenden Kurden vom türkischen Militär am Grenz­übertritt gehindert wurden.

Am Sonnabend, den 29. März, also 4 Tage zuvor, waren wir, von Diyarbakir kommend, in die nörd­lich gelegene Provinzhauptstadt Bingöl gefahren, um den Wahlverlauf zu beobachten. Da unsere Reisegruppe aus 12 Personen bestand, unterteilten wir uns in drei Gruppen,. Eine fuhr nach Kara­kocan, eine nach Karliova und eine blieb in Bingöl. Sowohl in Karakocan als auch in Bingöl trafen wir eine ganze Reihe Kurden, die wir aus Hamburg kannten und die sehr gut deutsch sprachen, so dass wir über ausreichend Dolmetscher verfügen konnten. Besonders in Karakocan, wo der BDP-Bürgermeisterkandidat ein alter Bekannter von uns aus Altona war, der vor ein paar Jahren wieder in seine Heimatstadt Karakocan hatte zurückkehren können, war der Empfang überaus herzlich und die Stimmung kämpferisch und voller Hoffnung, die Kommunalwahl erstmals für sich entscheiden zu können. In Bingöl war die Situation und auch die Stimmung sehr viel angespannter, was unter­strichen wurde durch ständig umher fahrende Militär- und Polizeifahrzeuge. Ohnehin stachen uns bereits auf der Fahrt von Diyarbakir nach Bingöl wie auch auf der späteren Weiterfahrt rechts und links von der Straße immer wieder Militärstützpunkte mit Panzern hinter Sta­cheldrahtverhauen ins Auge. Auf den Bergkuppen, auf denen sich diese Stützpunkte befanden, war immer wieder in türki­scher Sprache die Inschrift vatan önce (zuerst die Heimat) mit weißen Steinen in den Hang gelegt, so dass wir ständig das Gefühl hatten, durch ein besetztes Land zu fah­ren.

Am Sonntag, den 30.3. besuchten wir im Laufe des Tages Dutzende Wahllokale in den drei genann­ten Städten und umliegenden Dörfern. Dabei war unser Eindruck, dass es insgesamt verhältnismä­ßig korrekt zuging, was den Zugang zu den Wahllokalen anlangt, aber auch hinsichtlich der Ausga­be der Wahlscheine nach vorliegenden Wahllisten. Die WählerInnen konnten ihre Stimmzettel in abge­deckten Wahlkabinen stempeln und sie alsdann in verschlossenen Umschlägen in durchsichtige Wahlurnen stecken. Der Zugang zu den Wahllokalen stellte sich für unsere Beobachtergruppen sehr unterschiedlich dar. Die Wahllokale waren durchgängig in Schulgebäuden untergebracht, wo in ei­nigen die Polizei nur am Eingang des Schulgebäudes so eine Art Pförtnerdienst versah, während sie in anderen direkt vor den Wahllokalen postiert war und uns den Zutritt teilweise verwehrte. Wäh­rend wir in Karliova geradezu zuvorkommend hereingelassen und begrüßt wurden, kam es in Kara­kocan und Bingöl zu Einschüchterungsversuchen vor allem von Zivilpolizisten. Obwohl in einigen Wahllokalen ein für uns nicht ganz durchschaubares Durcheinander herrschte, schien uns die Wahl in dem von uns beobachteten Gebiet trotz mit aufgepflanzten MGs patrouillierender Militärfahrzeu­ge weitgehend repressionsfrei, geheim und im Ablauf transparent zu sein. Beeindruckend war ein für deutsche Verhältnisse kaum vorstellbarer Ansturm mit einer enorm hohen Wahlbeteiligung. Worauf wir allerdings immer wieder von den BDP-VertreterInnen hingewiesen wurden, war der Umstand, dass die Ausgangslage für die Parteien sehr unterschiedlich gewesen war. Zum einen be­finden sich mehrere tausend BDP-FunktionärInnen und -Aktivistinnen, darunter einige Dutzend ge­wählte Parla­mentsabgeordnete und BürgermeisterInnen z.T. seit Jahren im Gefängnis, zum anderen bekam die BDP im Gegensatz zu ihren Konkurrentinnen, der AKP; CHP und MHP, keinerlei Finanz­mittel für den Wahlkampf aus staatlichen Geldern. Dies wurde damit begründet, dass die BDP bei den Wahlen zum Nationalparlament im Gegensatz zu den anderen drei Parteien unter der geltenden 10% Sperr­klausel geblieben und nur durch ihre gut 30 direkt gewählten KandidatInnen in Parlament gekom­men sei.IMGP0597

Nach dem Schließen der Wahllokale um 16.00 Uhr trafen wir gegen 18.00 Uhr in Karakocan wieder zusammen. Nach Auszählung ca. eines Drittels der Stimmen und einem sehr deutlichen Vorsprung der BDP wurden wir in siegessicher Stimmung von den um das BDP-Büro versammelten Menschen und ihrem Spitzenkandidaten Burhan Kocaman verabschiedet und fuhren zurück nach Diyarbakir. Dort sahen wir im Fernsehen, dass es zwischen 20 und 22 Uhr in 16 Städten und Hunderten Wahllokalen mehrfach langwierige, bis zu einer Stunde dauernde Stromausfälle gegeben hatte, also genau in der Zeit, als etwa die Hälfte der Stimmen ausgezählt war und die Ergebnisse sich verfestigt hatten. In etlichen Wahlbezirken drehten sich die Mehrheitsverhältnisse plötzlich um. Während es vorher bei der Aus­zählung zum Teil deutliche Vorsprünge der BDP gegeben hatte, war es nun vielfach umgekehrt, so dass die regierende AKP vorne lag (die chauvinistischen und faschistischen CHP und MHP spielten in den kurdischen Kerngebieten keine Rolle). Dies war in Karakocan zwar nicht der Fall, aber bei­spielsweise in Ceylanpinar, wo die BDP bis 20 Uhr mit einem Stimmenanteil von 60% vorne gele­gen hatte, was auch den Ergebnissen vorangegangener Wahlen entsprach. Nun hatten sich aber im wahrsten Sinne des Wortes im Dunklen zwischen 20 und 22 Uhr die Verhältnisse umgekehrt, was die eingangs beschriebene Wut der Menschen hervorrief, die sich sicher waren, um ihren Sieg be­trogen worden zu sein. Ähnliches war in anderen Städten geschehen, unter anderem in Hasankeyf, wo wir am 3.4. ein ausführliches Gespräch mit dem dortigen BDP-Vorsitzenden führen konnten. In Ankara und anderen Städten im Westen der Türkei waren ebenfalls solche Entwicklungen nach Stromausfällen eingetreten, hier allerdings zu Lasten der CHP, die die dortigen Wahlergebnisse in­zwischen genauso angefochten hat, wie die BDP dies in vielen kurdischen Städten und Regionen getan hat. Die Einsprüche scheinen von den zuständigen Staatsanwaltschaften jedoch überall zu­rückgewiesen zu werden, obwohl inzwischen eine Vielzahl von Beweisen in Form von verbrannten Wahlzetteln, Handyaufnahmen von verschiedenartigen Manipulationen sowie verschwundenen Wahlurnen vorliegen und eingereicht wurden.

Die Bewertung seitens der von uns kontaktierten BDP-VertreterInnen sieht so aus, dass man die Wahlfälschungen mit den Stromausfällen seitens der regierenden AKP lange und professionell „für den Notfall“ vorbereitet hatte und nach einem weitgehend transparenten Wählverlauf und dem Be­ginn der Stimmauszählung erst einmal abwarten wollte, wo es „nötig“ und besonders wichtig war, entsprechend aktiv zu werden. Dies versuchte man nicht in den kurdischen Metropolen und BDP-Hochburgen, wo es völlig unglaubwürdig gewesen wäre, aber um so mehr in abgelegeneren Regio­nen und insbesondere an der syrischen Grenze, wo man offensichtlich verhindern will, dass die kur­dischen Autonomiebewegungen beiderseits der Grenze sich vereinigen könnten, was für die kom­munale Selbstverwaltung in den Grenzprovinzen auf der türkischen Seite von erheblicher Bedeu­tung wäre. Hasankeyf kommt aufgrund des entschlossen Widerstands der BDP gegen das bereits im Bau befindliche zerstörerische Staudammprojekt eine zwar anders gelagerte, aber nicht weniger große Bedeutung zu. Die Wahlfälschungen im türkischen Teil der Türkei dürften mit der Rivalität zwischen der AKP einerseits und der CHP, MHP und der Gülen-Bewegung andererseits zusammen­hängen. Hier hat die AKP versucht, die durch die Korruptionsaffairen zuvor ins Schwanken gerate­ne Position Erdogans durch einen fulminanten Wahlsieg wieder zu festigen.

Ein humanitäres Hilfsprojekt für Rojava

Unsere Reise diente neben der Wahlbeobachtung noch einem weiteren Zweck. Während die gesam­te Gruppe von Jan van Aken, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Der Linken und Sprecher für internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion, gegenüber dem Auswärtigen Amt, und da­mit auch den türkischen Behörden, als Beobachterdelegation angemeldet war, reisten einige Teil­nehmerInnen zusätzlich als Mitglieder des gemeinnützigen Hamburger Vereins „Kurdistan-Hilfe e.V.“ mit dem Auftrag und der Absicht, ein konkretes Hilfsprojekt in Rojava (Westkurdistan/Syrien) durch eine entsprechende Kontaktaufnahme vor Ort in die Wege zu leiten. Da der Grenzübertritt von der Türkei nach Rojava nicht möglich ist – die Türkei hat entlang der Grenze eine Mauer er­richtet, die mit Nato-Stacheldrahtverhauen und Wachtürmen besetzt und von Minenfeldern umge­ben ist - , hatten wir eine Verabredung mit einer oder mehreren Kontaktpersonen in Nusaybin ver­einbart. Nusaybin ist eine durch die koloniale Grenzziehung der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts von ihrer anderen auf der syrischen Seite gelegenen Hälfte geteilte Stadt. Qamisli, wie sie dort heißt, ist die Hauptstadt Rojavas, und befindet sich im östlichsten der drei kurdischen sich unlängst für autonom erklärt habenden Kantone im Norden Sy­riens gegenüber der Grenze zur Türkei, wobei diese Kantone voneinander durch breite Korridore ge­trennt sind, die weitgehend von den Al-Nusra- Banden kontrolliert werden, z.T. wohl auch noch von den Resten der nicht mehr wirklich existieren­den Freien syrischen Armee, die sich angesichts der Gräueltaten der Islamisten Berichten zufolge teilweise mit den kurdischen Selbstverteidigungs­kräften der YPG verbündet hat.

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In Nusaybin, also auf türkischer Seite, gelang uns tatsächlich unter schwierigsten Umständen, die hier nicht näher beschrieben werden können, ein Zusammentreffen mit einem Vertreter des kurdi­schen Roten Halbmonds Heyva Sor aus Qamisli (Rojava). Dieser betonte mehrmals, dass ihre Hil­feleistungen ehrenamtlich ausgeführt werden und sich auf die Versorgung Verletzter und Kranker al­ler Ethnien und Religionen erstrecken. Er überreichte uns die entsprechenden Unterlagen zur Tätig­keit seiner Organisation. Wir konnten ihm eine größere, zuvor in Hamburg im Rahmen der Kurdis­tan Hilfe gesammelte Summe Geldes überreichen, deren Übernahme er uns unter abenteuerlichen Umständen mit Stempel, Unterschrift und Gruppenfoto quittierte. Das Geld soll als Anschubfinanzierung für den Wiederaufbau einer von dschihadistischen Selbstmordattentätern zerstörten Am­bulanz in Rojava dienen. Die Kurdistan Hilfe wird hierfür weiter Geld sammeln und bittet um Spen­den auf das Konto bei der Hamburger Sparkasse IBAN DE40 2005 0550 1049 2227 04. Weitere Informationen zu dem Hilfsprojekt: unter www.kurdistanhilfe.de

Fazit und politische Forderungen der Delegation an die Bundesrepublik Deutschland:

  • Druck auszuüben auf die AKP-Regierung, Neuwahlen unter Aufsicht der OECD durchzuführen oder zumindest eine Neuauszählung der Stimmen vorzunehmen,
  • Druck auszuüben auf die AKP-Regierung, jegliche Unterstützung für die4 Al-Kaida/Al- Nusra-Banden einzustellen,
  • jegliche Militärlieferungen an die Türkei, Saudi-Arabien und alle die Al-Nusra-Söldner finanzierenden und anderweitig unterstützenden Staaten einzustellen,
  • die UNESCO aufzufordern, die einzigartige antike Stätte Hasankeyf zum Weltkulturerbe zu erklären und das Tigris-Staudamm-Projekt zu stoppen, dem Hasankeyf und 120 Dörfer zum Opfer fallen sollen,
  • das PKK-Verbot aufzuheben und die Friedensinitiative Abdullah Öcalans und der BDP zu unterstützen.

Istanbul, den 4. April 2014

die DelegationsteilnehmerInnen:
Robert Jarowoy, Beate Reiss, Michael Alberti, Sabine Caspar, Wolfgang Ehmke, Günther Engels, Gaby Hatscher, Sabine Heyken, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Brigitte Reiss, Wolfgang Ziegert


weiterführende Seiten:
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www.isku.org
www.civaka-azad.org
kurdistan.blogsport.de

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Sonderseite zu den Kommunalwahlen:
www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/wahlen/2014/index.htm