Politischer Bericht einer Hamburger Newroz-Delegation
Die Reiseroute führte in der Zeit vom 19.-26.3.13 von Diyarbakir über die Städte entlang der syrischen Grenze Ceylanpinar, Kiziltepe, Nusaybin und Cizre nach Sirnak und von dort aus auf dem Rückweg über Eruh nach Batman mit einem Abstecher nach Hasankeyf und wieder zurück nach Diyarbakir.
Anlässlich der von ca. 2 Millionen KurdInnen besuchten Newroz-Veranstaltung in Diyarbakir am 21.3.13 hat Abdullah Öcalan in einer Grußbotschaft zu einem Waffenstillstand aufgerufen und einen möglichen Rückzug der Guerilla-Einheiten aus der Türkei in Aussicht gestellt.
Die Reaktionen darauf fassen wir wie folgt zusammen:
"Der Repräsentant des kurdischen Volkes Serok Apo hat einen Waffenstillstand von seitens der Kurden ausgerufen. Murat Karyilan hat ihn als Vorsitzender des Rates der Kurdischen Gemeinden bestätigt. Wir wissen nicht, ob der türkische Staat irgendwelche Zusagen gemacht hat - gesehen haben wir davon bislang nichts -, aber wir werden uns daran halten und abwarten, ob es zu positiven Entwicklungen kommt. Wir sind zum Frieden bereit, aber wir haben die Waffen nicht niedergelegt, und wir werden nicht zögern, sie wieder aufzunehmen, wenn wir feststellen sollten, dass Erdogan nur irgendwelche Spiele mit uns spielt, wie wir es schon oft erlebt haben. Unser Volk war noch nie so stark organisiert und so selbstbewusst wie jetzt. Ohne einen gleichberechtigten Status für unser Volk und die Freilassung Öcalans und der politischen Gefangenen wird es keinen Frieden geben. Das ist die Botschaft von Millionen Kurdinnen und Kurden, die in diesem Jahr die Newroz-Veranstaltungen besuchten."
Das ist die Quintessenz dessen, was wir in sehr vielen Gesprächen während unserer Reise in unterschiedlichen Landesteilen von den unterschiedlichsten Menschen immer wieder erfuhren. Gesprochen haben wir mit gewählten Bürgermeistern, FunktionärInnen der auch im türkischen Parlament mit zahlreichen Abgeordneten vertretenen Partei für Demokratie und Frieden BDP sowie einfachen Menschen, denen wir durch Zufall begegneten. Der äußere Eindruck, der sich uns insbesondere in Sirnak und Eruh bot, war trotz der friedlichen Gesamtsituation der eines militärisch besetzten Landes. Panzersperren und Militärkonvois prägten das Bild.
In Bezug auf die Situation der kurdischen Bevölkerung in Syrien erfuhren wir von Flüchtlingen, dass sie ihre ganze Hoffnung in die Selbstorganisation und Verteidigung der Siedlungsgebiete durch die YPG, die Schwesterorganisation der PKK, setzen. Die Kurdinnen und Kurden in Syrien haben jahrzehntelang die aller schärfste Unterdrückung durch das Assad-Regime erlebt, trauen der sog. Freien Syrischen Armee FSK, die sich z.T. aus islamistischen Söldnern zusammensetzt, aber ebenso wenig.
Von Seiten des türkischen Staates erfahren sie keinerlei Unterstützung. Durch die Schließung der Grenze und das Wirtschaftsembargo ist es den kurdischen BDP-Stadtverwaltungen entlang der syrischen Grenze nur sporadisch möglich, Hilfsgüter in geringem Umfang nach Syrien zu schicken. Während mehrere zehntausend arabische Flüchtlinge in der Türkei Aufnahme und Verpflegung in Zeltlagern gefunden haben, bleibt es an den kurdischen Stadtverwaltungen mit ihren sehr geringen Mitteln hängen, die kurdischen Flüchtlinge vorwiegend privat unterzubringen und durch kommunale Suppenküchen zu versorgen. Dies ist überhaupt nur möglich, weil die nach dem 1. Weltkrieg von den Kolonialmächten willkürlich gezogene Grenze mitten durch die kurdischen Siedlungsgebiete geht, so dass fast alle Familien Verwandte auf der jeweils anderen Seite der Grenze haben. Von diesen wissen sie, dass die Lage in Bezug auf Lebensmittel, Treibstoff und medizinische Versorgung im syrischen Landesteil sehr schlecht ist, was auch daran liegt, dass sehr viele Kurden aus den großen Städten wie Damaskus und Aleppo in die kurdischen Siedlungsgebiete geflüchtet sind, so dass sich die Bevölkerung dort verdoppelt hat.
Wie uns sowohl von den kurdischen Flüchtlingen aus Syrien als auch von den Menschen im Grenzgebiet auf türkischer Seite versichert wurde, ist ihr größter Wunsch und ihre Hoffnung die Öffnung und Abschaffung dieser Grenze, damit sie sich gemeinsam selber organisieren und verteidigen können. Wie dies funktionieren könnte, zeigt sich nach übereinstimmenden Angaben z.Z. in Syrien und - von uns nachvollziehbar - in der Türkei, wo die Kommunalverwaltung trotz Reduzierung der staatlichen Haushaltsmittel auf die Hälfte der sonst üblichen Zuwendungen binnen weniger Jahre Enormes geleistet hat, was die Verbesserung der öffentlichen Daseinsfürsorge anlangt. Straßen wurden gepflastert, Grünzüge mit Kinderspielplätzen angelegt sowie soziale Einrichtungen geschaffen.
In Hasankeyf, einer Jahrtausende alten noch weitgehend unerforschten Wiege der menschlichen Zivilisation, in der seit über 10.000 Jahren eine Vielzahl von Völkern und Kulturen ihre Spuren hinterlassen haben, begegneten wir einer ziemlichen Ratlosigkeit. Nachdem auf nationaler und internationaler Ebene alles Erdenkliche getan wurde, um das gigantische Staudammprojekt zu stoppen, und man voller Freude und Hoffnung war, als Deutschland, Österreich und die Schweiz ausgestiegen waren, erfuhr man, dass die Türkei das Projekt nun aus eigener Kraft mit eigenen Mitteln vorantreiben wolle. Statt eines Baustopps wurden die Baumaßnahmen zur Errichtung einer 130 m hohen Staumauer fortgesetzt, die den Tigris in einer entsprechenden Höhe in einer Länge von 160 km aufstauen soll. 75 Dörfer werden neben den unschätzbaren archäologischen Zeitzeugnissen unwiederbringlich versinken, wenn nicht noch ein Umschwung geschieht. "Jetzt gibt es ja Gespräche zwischen dem Staat und der PKK. Vielleicht stoppt die PKK ja den Staat..." äußert ein Händler mit verschmitztem Lächeln.
Vor diesem Hintergrund lauten unsere Forderungen an die deutsche Regierung:
Unterstützung des Friedensprozesses durch Einstellung der Waffenlieferungen und Ausübung politischen Drucks auf die Türkei, Aufhebung des PKK-Verbots und Einstellung aller Verfahren nach §129b (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung) gegen Kurdinnen und Kurden, Anerkennung und Durchsetzung eines umfassenden Status des kurdischen Volkes, Freilassung Abdullah Öcalans und aller politischen Gefangenen in der Türkei.
Michael Alberti, Sabine Caspar, Wilhelm Engels, Robert Jarowoy, Yilmaz Kaba, Susanne Klewitz, Aleksandra Kruk, Magdalene Mintrop, Beate Reiss, Brigitte Reiss, Arnold Schnittger, Andrea Winkler
Hamburg, im März 2013